Das Institut für Demografie der Akademie der Wissenschaften (VID) ist letzten Monat übersiedelt. Die neuen Räumlichkeiten liegen in einem verglasten Neubau auf dem Campus der WU Wien unweit des Praters.
Dass gerade dieser Ort für die neuen Büros ausgewählt wurde, hat mit den Demografen der Wirtschaftsuni zu tun. Die arbeiten nämlich im Stockwerk darunter, für den physischen Kontakt der beiden Gruppen wurde das Campusgebäude sogar mit einer gesonderten "Demografenstiege" ausgestattet.
Ö1-Sendunghinweis
Über dieses Thema berichtet heute auch "Wissen aktuell", 8.9.2015, 13:55 Uhr.
Die Bündelung der Kräfte, sagt VID-Direktor Wolfgang Lutz, sei notwendig um international herzeigbare Forschung betreiben zu können. Bündelung ist ein Leitthema, das die österreichische Demografieforschung im Grunde seit 40 Jahren bestimmt. 1975 wurde das VID, damals mit zwei Mitarbeitern noch ein Mini-Institut, gegründet. Im gleichen Jahr startete auch das Forschungszentrum IIASA in Laxenburg sein "World Population Program".
Beide Institutionen arbeiten seitdem eng zusammen, tauschen Mitarbeiter, Expertisen und publizieren miteinander. Und vor fünf Jahren kam noch ein dritter Player hinzu, eben die Demografen der WU – alle drei kooperieren seitdem auf einer Plattform, dem Wittgenstein-Zentrum für Demografie.
Ende des Wachstums: 2050 oder 2100?
Das Wittgenstein-Zentrum und die damit assoziierten Forscher sind die weltweit einzige Gruppe, die mit der UNO in Konkurrenz tritt, wenn es um die Vorhersage des weltweiten Bevölkerungswachstums geht. Der UN-Weltbevölkerungsfonds hat kürzlich neue Statistiken veröffentlicht, denen zufolge die Weltbevölkerung bis 2050 auf 9,7 Milliarden anwachsen wird. 2100 sollen bereits 11,2 Milliarden sein.

Czepel
Lutz und seine Kollegen sehen das anders. Wie sie in einer kürzlich erschienen 1.000-seitigen Studie schreiben, wird bereits 2050 der Gipfelpunkt mit 9,5 Milliarden Menschen erreicht sein. Danach geht es, langsam aber doch, wieder bergab. Die Differenz zur Vorhersage der UNO ist beträchtlich – der Grund dafür liegt in den verwendeten Methoden.
Die UNO-Wissenschaftler projizieren Kurven der Vergangenheit in die Zukunft und erfassen dabei nur Alter und Geschlecht. Die Forscher um Lutz hingegen zoomen gewissermaßen ins Kollektiv und versuchen so auch Trends bei Gesundheit, Arbeit und Bildung zu erkennen.
Vor allem letztere ist ein extrem wichtiger Faktor, wenn es um das Bevölkerungswachstum geht. In Äthiopien haben Frauen ohne Schulbildung im Schnitt sechs Kinder, jene, die einen Maturabschluss besitzen, hingegen nur 1,7. Das Beispiel mag extrem sein, doch der Zusammenhang gilt überall. "Wenn der Anteil der gebildeten Frauen zunimmt, nimmt auch die Geburtenrate stark ab, das beobachten wir in allen Ländern dieser Welt", sagt Lutz.
Dass die Demografie zu Österreichs Aushängeschildern in Sachen Forschung zählt, ist historisch betrachtet nicht selbstverständlich. In der Nazi-Zeit stand diese Disziplin ganz im Zeichen der Eugenik - die "Deutsche Gesellschaft für Demografie" wurde umbenannt in "Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene" – und war in der Nachkriegszeit dementsprechend diskreditiert.
Pillenknick kam völlig unerwartet
Das Interesse an Bevölkerungsstatistik erwachte erst wieder nach den Jahren des Baby-Booms. Dass in den 70er Jahren der sogenannte Pillenknick auftrat und die Geburtenraten einbrachen, kam völlig unerwartet, erzählt Lutz. Diese Wendung sei mithin eines der Hauptmotive zur Gründung des Instituts gewesen. "Den Wissenschaftlern und den Politikern wurde bewusst: Wir wissen gar nicht, warum die Leute plötzlich weniger Kinder bekommen. Das war das erste große Forschungsthema des Instituts."
Die zweite große Überraschung der letzten 40 Jahre betraf die Lebenserwartung. Sie stieg entgegen der Prognosen der UNO immer weiter und tut es auch heute noch. Ein Ende der Entwicklung ist nicht abzusehen: "Die Lebenserwartung nimmt pro Jahrzehnt zwei bis drei Jahre zu. Wenn man das auf ein Jahr umrechnet, könnte man sagen: Wir altern nur von Jänner bis September. Der Rest des Jahres wird uns quasi vom lieben Gott geschenkt."
Das, sagt Lutz, "sollte man eigentlich zelebrieren und feiern – und nicht immer nur jammern über die Folgen der Alterung". Apropos zelebrieren: Am 9. September feiert das VID sein 40-jähriges Bestehen mit einem Symposion. Titel der Veranstaltung: "Demography that Matters".
Robert Czepel, science.ORF.at
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