Das sogenannte Standardmodell der Elementarteilchen erklärt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das Modell gehört zu den am besten bestätigten, die die Wissenschaft zu bieten hat. Und doch wollen es viele Physiker insgeheim loswerden.
Das hat damit zu tun, dass das Standardmodell nichts zur Dunklen Materie und zur Dunklen Energie zu sagen hat - die beiden großen Unbekannten in der gegenwärtigen Physik. Daher hoffen viele auf eine neue, umfassendere Theorie, die das Sosein des Kleinen und des Großen, der Materie und des Universums, quasi in einem Schwung erklärt. Nur ist nicht klar, wo bzw. wie sich diese "neue Physik" zeigen könnte.
Zufall noch nicht auszuschließen
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Die Auswertung des LHCb-Teams ist auf dem Preprintserver "arXiv" erhältlich. Sie soll demnächst in den "Physical Review Letters" erscheinen.
Auswertungen des LHCb-Experiments am CEN geben nun einen Hinweis. Fündig wurden die Forscher beim Zerfall von sogenannten B-Mesonen. Dabei sollten unter anderem zwei schwere Verwandte des Elektrons namens Myon und Tau entstehen, und zwar in exakt gleichem Verhältnis. Die Daten weisen aber auf einen Überschuss von Tau hin - sollte sich das bestätigen, wäre das ein Widerspruch zu den Vorhersagen des Standardmodells. Noch keine Widerlegung, aber ein kleiner Riss im Theoriegebäude, der sich mit der Zeit zu einem Bruch auswachsen könnte.
"Ich glaube, es wäre naiv anzunehmen, wir könnten die neue Physik mit einem Experiment entdecken und dann sagen: Oh, da ist sie! Wenn es sie gibt, dann wird sie sich zunächst durch kleine Widersprüche zeigen und schrittweise zum Vorschein kommen", sagt Jochen Schieck. Der Direktor des Instituts für Hochenergiephysik in Wien mahnt aber zur Vorsicht. Von einer Entdeckung könne man noch nicht sprechen, die Messungen könnten sich auch noch als Irrtum oder Zufall erweisen.
Um letzteren auszuschließen, rechnen Physiker in sogenannten Standardabweichungen oder Sigma. Fünf Sigma gelten als statistisch wasserdicht, die Daten des LHCb-Experiments liegen zurzeit bei 2,1 Sigma. Das ist nicht berauschend. Aber: Zwei andere Experimente, Babar in Kalifornien und Belle in Japan, haben in den letzten drei Jahren ebenfalls Hinweise auf eine solche Anomalie entdeckt.
Und das macht die Spur, so sie noch nicht heiß ist, zumindest deutlich wärmer. Die Ergebnisse der drei Experimente könne man auch summieren, sagt Schieck. "Dann liegen wir bei 3,9 Sigma - das ist eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 99 Prozent."
Mögliche Erklärung: Geladenes Higgs-Teilchen
Erklären ließe sich die Anomalie durch die Existenz eines neuartigen, nämlich geladenen Higgs-Teilchens. Eine Theorie, die so etwas vorhersagt, ist die sogenannte Supersymmetrie, kurz SUSY. Sie geht davon aus, dass sämtliche bekannten Teilchen Partner in anderen Energieregionen besitzen - auch das Higgs-Boson, das (bzw. dessen Feld) für die Entstehung der Masse verantwortlich ist. Und sie böte auch mögliche Erklärungen für die Dunkle Materie und die Dunkle Energie, von denen man noch nicht einmal weiß, woraus sie bestehen.
SUSY hat in der Physikergemeinde viele Anhänger, bislang ist sie allerdings sprichwörtlich graue Theorie, weil es für sie noch keine Bestätigung im Experiment gibt. Ob an der Sache etwas dran ist, wird sich wohl erst im Sommer nächsten Jahres zeigen. Die aktuellen Ergebnisse basieren noch auf dem letzten Lauf des Beschleunigers LHC, der seit Anfang Juni Teilchenkollisionen mit doppelt so hoher Energie erzeugt.
Für Schieck ist die Situation jedenfalls "spannend". Sein Fachkollege Mitesh Patel vom Imperial College London kommentierte die neuen Ergebnisse jüngst mit dem Satz: "Das Standardmodell besteht nun schon seit so langer Zeit. Auf welche Art auch immer: Wir werden es zu Fall bringen."
Robert Czepel, science.ORF.at
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