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Jäger und Sammler: Manig im Regenwald Südthailands

"Das Studienobjekt hat sich verflüchtigt"

Wie ist es, im Urwald zu leben? Helmut Lukas weiß, wie sich das anfühlt. Der österreichische Sozialanthropologe hat Jahre mit Jägern und Sammlern, den Maniq in Thailand, gelebt. Bis es dazu kam, dauerte es allerdings einige Zeit. Denn sein Studienobjekt war zwischenzeitlich im Regenwald verschwunden.

Jäger & Sammler 14.09.2015

Die Maniq sind eine der wenigen Ethnien auf der Welt, die selbst auf rudimentäre Landwirtschaft verzichten. Ackerbau lehnen sie aus religiösen Gründen ab, ein sesshaftes Leben ist ihnen fremd. Sie ziehen durch den Wald, schlafen unter aus Blättern gebauten Windschirmen und ernähren sich von Fisch, Fleisch, Knollen und Früchten. Die Maniq sind ein friedfertiges Volk - und akut bedroht. Ihr Lebensraum, der Regenwald in Südthailand, wird jährlich kleiner, in der Thai- Gesellschaft rangieren sie ganz unten. Sie gelten sie als khon pà, als "Wilde, die keine Kleider benutzen".

Von den sterilen Untersuchungsmethoden, derer sich auch manche seiner Kollegen im Urwald bedienen, hält Helmut Lukas nichts. Wer ein guter Sozialanthropologe sein will, sagt er, müsse mit den Menschen, für die er sich interessiere, auch leben, ihre Bräuche übernehmen, Teil der Gemeinschaft werden. Nur so sei es möglich herauszufinden, wie sie denken und die Welt betrachten.

Sozialanthropologe Helmut Lukas in seinem Büro

Czepel

Helmut Lukas in seinem Büro - die Speerspitze ist ein Geschenk.

Dafür brauche es vor allem Empathie und Durchhaltevermögen. Und natürlich gute Sprachkenntnisse. Die hat sich der geborene Steirer im Laufe der Jahre angeeignet. Er ist mit einer Indonesierin verheiratet, spricht neben Indonesisch auch Malaysisch und Thai, sowie die Sprachen der Indigenen, die er im Laufe seiner Karriere besucht hat. Das sind neben den Maniq unter anderem die Toba-Batak und Orang-Rimba in Sumatra.

In Lukas' Büro am Institut für Sozialanthropologie in Wien-Landstraße sind die Regale bis auf den letzten Zentimeter mit Ordnern und Büchern gefüllt, an der Wand hängen Fotografien aus dem Urwald. Auf dem Schreibtisch liegt eine Speerspitze aus Metall, die er für die Maniq hat anfertigen lassen - ein Geschenk.

Geschenke sind wichtig, sagt Lukas. Jäger und Sammler seien ans Teilen gewöhnt und ansonsten sehr scheu, ihr Vertrauen zu gewinnen dementsprechend schwierig. Doch im Laufe der Jahre sei es gelungen. "Mein Kollege Khaled Hakami und ich sind vielleicht die einzigen Menschen aus dem Westen, denen die Maniq wirklich vertrauen", erzählt er und setzt sich an seinen Schreibtisch. Zum Gespräch serviert der Wissenschaftler eine Tasse heißen Tee …

Helmut Lukas: Wissen Sie, wer der erste Mensch aus dem Westen war, der über Tee geschrieben hat?

science.ORF.at: Nein, keine Ahnung.

Das war Fernberger, 1623.

Wer?

Christoph Carl Fernberger, der erste österreichische Weltreisende. Ich schreibe gerade ein Buch über ihn. Er hat zwischen 1621 und 1628 die Welt umsegelt – unfreiwillig übrigens, eine tolle Geschichte!
Während dieser Reise hat er Tagebuch geführt. Ich habe nun einen Teil seiner Aufzeichnungen aus dem Frühneuhochdeutschen übersetzt, der Text ist großartig zu lesen, für mich ist das die österreichische Variante des Simplicius Simplicissimus von Grimmelshausen.

Was schreibt Fernberger in seinem Tagebuch?

Er berichtet unter anderem von einem Krieg zwischen Thailand und dem Königreich Patani, der sonst in keinem anderen Dokument erwähnt wird. Damals gab es ein Berichtsloch, die Holländer und Briten hatten das Gebiet zwei Jahre davor verlassen. Fernberger nahm an dem Krieg auch aktiv teil. Er trug sich der malayischen Königin als Militärexperte an – er war nämlich Oberst der österreichischen Armee – und führte die Streitkräfte mit Hilfe einer sogenannten Christenarmee, 60 Mann mit Schusswaffen, tatsächlich zum Erfolg.

Wie reagierte die Königin?

Sie wollte mit ihm ins Bett.

Wie bitte?

Ja, tatsächlich. Sie ließ ihm einen Schlafsack, Udi-Udi genannt, überreichen, und Fernberger wusste nicht, was das bedeutet. Also fragte er einen General, der mit den Sitten vertraut war. Der sagte: "Ich gebe ihnen Opium, das werden sie brauchen." Opium wurde damals als Aphrodisiakum eingesetzt. Daraufhin Fernberger: "Warum?" "Die Königin wird diese Nacht kommen, sie möchte mit ihnen schlafen." "Aha." "Aber die Königin ist sehr hitzig. Wenn man nicht ihren Ansprüchen genügt – Kopf ab. Das ist schon öfter passiert." Fernberger fuhr sofort zum Hafen und reiste ab.

Sie beschäftigen sich in Ihren Forschungen hauptsächlich mit Jägern und Sammlern in Thailand. Wie kommt man zu so einem Forschungsthema? Man reist ja nicht einfach in den Urwald und sagt sich: Ich besuche die jetzt mal.

Natürlich nicht. Es war eigentlich Zufall. Die Geschichte beginnt im Jahr 1995 mit einem Anruf am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie. Am Telefon war ein deutscher Archäologe, den ich zufällig von früher kannte.

Er hatte mit Kollegen in Thailand bis zu 10.000 Jahre alte Skelette und Steinwerkzeuge ausgegraben und sagte zu mir: "In der Nähe der Fundstelle gibt es Jäger und Sammler. Sie sind ganz scheu, haben dunkle Haut und Kraushaare – sie sehen aus wie Afrikaner. Wir wollen mehr über sie wissen, vielleicht wurden die Steinwerkzeuge von ihren Vorfahren hergestellt." Ich war damals schon mit einigen Ethnien in Südostasien vertraut, aber über diese Jäger und Sammler, die Maniq, wusste ich nichts.

Maniq, Jäger und Sammler aus Thailand: Mann mit Kind auf dem schoß

Khaled Hakami

Auch Kinder dürfen rauchen: Das ist Ausruck der Egalität, die Maniq machen im Prinzip keine Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern.

Wie kam es zum ersten Kontakt?

1996 begleitete ich eine Gruppe von 70 Archäologen und Thais in den Urwald, die Begegnung war schwierig – ich war nämlich der einzige, der sich vorbereitet und Geschenke mitgebracht hatte. Man muss wissen: Die Thais behandeln die Maniq sehr von oben herab. Sie nahmen ihnen die Blasrohre weg und führten sich auf wie Cowboys. Und die Archäologen begannen alle zu fotografieren – mit Blitz. Die Männer zitterten, die Frauen und Kinder begannen zu schreien, zu weinen und liefen weg.

Ich dachte: Oh Gott, was mache ich da? Mir war als geschulter Feldforscher klar: Der Erstkontakt ist wichtig. Wenn der nicht funktioniert, kann man die Sache vergessen. Das wichtigste soziale Prinzip der Jäger und Sammler ist Teilen. Also breitete ich meine Matte auf dem Boden aus, legte darauf Bilder von Semang aus Malaysien und die Geschenke: Rosinen für die Kinder, Tabak und Nipablätter zum Rollen für die Erwachsenen.

Und?

Sie kamen zu mir. Zuerst die Männer, dann die Frauen. Vor allem die Fotos waren Gold wert. Die erregten wirklich Interesse.

Konnten Sie sich mit den Maniq verständigen?

Ich war so gut vorbereitet, wie es in dieser Situation möglich war und hatte eine Wörterliste aus historischen Forschungsberichten dabei. Sie stammt vom österreichischen Forscher Paul Schebesta, der in den 20er Jahren Jahai und andere Semang in Malaysien besucht hatte, die ganz ähnlich wie die Maniq leben.

Und die Maniq verstanden, was sie sagten?

Nun ja, zum Teil. Schebestas Wortliste war keine wissenschaftliche Transkription im heutigen Sinn, als ich beispielsweise "E", das Wort für "Hund", vorlas, verstanden die Maniq nicht, weil ich es falsch ausgesprochen hatte. Und wie sich später herausstellte, war das auch aus einem anderen Grund missverständlich, denn es gibt in der Sprache der Maniq zwei ganz ähnlich klingende Begriffe. Einer bedeutet "Vater" und der andere bedeutet "Scheiße" … Aber das machte nichts, der Erstkontakt war hergestellt.

Wie ging es nach dem ersten Kontakt weiter?

1997 wurde mir vom FWF ein Forschungsprojekt zu diesem Thema finanziert. In diesem Jahr war ich drei Monate in Thailand und suchte zu Fuß und mit dem Motorrad nach dieser Gruppe. Aber vergeblich. Ich fand sie nicht. So kam ich zurück nach Österreich und sagte zu den Leuten vom FWF: "Ich schreibe gerne einen Bericht, aber das Resümee des Berichts lautet: Das Studienobjekt hat sich verflüchtigt." Daraufhin bekam ich eine zweite Chance – auch dieser Versuch misslang. Erst beim dritten Mal gelang es mir, Kontakt mit den Maniq herzustellen.

Sprechen Sie heute die Sprache der Maniq?

So halbwegs. Manches verstehe ich bis heute nicht, aber ich kann mich verständigen.

Wie eignet man sich eine Sprache an, wenn es niemanden gibt, der sie einem beibringen kann?

Es gibt ethnolinguistische Methoden, mit denen man sich das Basisvokabular in solchen Situationen aneignen kann. Dafür muss man unter anderem phonetisch transkribieren können – das könne heute nur mehr die wenigsten, weil es kaum mehr gelehrt wird. Damit geht natürlich die ethnologische Feldforschung den Bach hinunter, das muss man auch einmal sagen.

In welchem Zeitalter leben die Maniq technologisch - in der Steinzeit?

Es ist schwierig zu sagen, ob man diesen Begriff hier anwenden kann. Bis vor 100 Jahren hatten die Maniq kaum Zugang zu Metallwerkzeugen, verwendeten aber aller Wahrscheinlichkeit nur sehr einfache Steinwerkzeuge.

Warum?

Aus religiösen Gründen. Ich habe den Maniq Steinbeile gezeigt und sie sagten zu mir sofort: "Batu Ka'ei!" "Batu" ist der Stein oder Fels und "Ka'ei" der Donnergott, oder wie man besser sagen sollte: der höchste Ahne. Er bestraft nach Ansicht der Maniq Übertretungen, indem er Donnerkeile vom Himmel in den Urwald wirft. Aus dem gleichen Grund lehnen die Maniq auch die Landwirtschaft ab. Felder anzulegen hieße, sich gegen den Donnergott zu stellen.

Metall hatten sie noch nicht, Steinbeile lehnten sie ab - was haben die Maniq früher als Werkzeug verwendet?

Bambus. Bambusmesser sind extrem scharf. Die Maniq, die ich kenne, arbeiten heute mit Thai-Macheten.

Jäger und Sammler weiden in der Nacht ein frisch erlegtes Tier aus

Khaled Hakami

Die Maniq müssen das Fleisch sofort bearbeiten, auch wenn es spät ist. Taschenlampen gibt es noch nicht lange.

Wie würden Sie die Sprache und das Denken der Maniq für jemanden beschreiben, der noch nie bei Ihnen im Urwald war?

Ihre Sprache kennt kein Wort für Mensch, nur "Wir" - "Maniq" - und die "Anderen". Die heißen bei ihnen "Hamiq". Es gibt auch kein Wort für "selten", "oft", "alle". Sie kennen auch keinen Komparativ, es gibt kein "größer", "kleiner", "länger". Da stellt sich natürlich die Frage: Können sie überhaupt unterschiedliche Mengen unterscheiden?

Können Sie es?

Im exakten Sinne nicht, es ist auch nicht wichtig. Aber sie sagen zum Beispiel: "ich gehe viel viel." Sie zählen auch nicht so wie wir, sondern unterscheiden nur "eins", "zwei" und "viele". Das Interessante ist: "Eins" heißt auch "allein". Und "zwei" heißt auch "Zwilling" oder "Paar". Die Maniq haben auch ein eigenes Raumkonzept.

Inwiefern?

Sie orientieren sich nicht wie wir an Himmelsrichtungen, sondern an konkreten Bezugspunkten, flussabwärts, flussaufwärts, bergwärts, talwärts. Manchmal habe ich dennoch das Gefühl, sie haben einen Kompass eingebaut. Wenn ich mit ihnen auf Jagd gehe und wir stundenlang durchs Dickicht wandern, dann sagt manchmal einer zu mir: "So, und jetzt lass deine Schuhe hier. Wir müssen uns anschleichen." Und er findet sie jedes Mal wieder, wenn wir zurückkommen, es ist unglaublich!

Forscher vom Max Planck Institut für Psycholinguistik haben letztes Jahr herausgefunden, dass die Maniq ein sehr ausgeklügeltes Vokabular für Gerüche besitzen. Was sagen Sie dazu?

Über diese Studie hat sogar der Spiegel groß berichtet, doch ich bin sehr skeptisch. Von den 15 Begriffen sind meiner Kenntnis nach nur zwei echte Geruchsbegriffe, und einer davon war in der Studie falsch transkribiert. Ich habe mit einer Maniq gesprochen, die bei den Untersuchungen dabei war:

Die ganze Methode war meiner Ansicht nach untauglich, die Forscherin lag in der Hängematte und hatte einen herrischen auftretenden Thai als Übersetzer dabei. Die Probanden mussten sich anstellen und dann etwas zu den standardisierten Gerüchen sagen. Und dann kamen Reaktionen wie: "Mi Huhul". "Mi" heißt übersetzt: "Es ist, es existiert" - das ist aber Thai!

Und das "Huhul" steht für das Vertreiben einer Schlange - das ist eine freie Assoziation, mit Gerüchen hat das nichts zu tun. Die Leute sind einfach nicht gewohnt, außerhalb des Lebenskontexts befragt zu werden. Deswegen ist ja die teilnehmende Beobachtung so wichtig. Und Empathie.

Apropos: Es heißt, die Maniq seien sehr friedlich.

Das sind sie auch. Sie lehnen Gewalt ab. Und wenn es dennoch zu Konflikten zwischen Familien kommt, dann verlässt eine davon, oft auch beide, die Gruppe und schließt sich einer anderen an. Und ihre Kindererziehung ist wirklich grandios. Die Kinder zu schlagen, wie das bei den Thai üblich ist, ist für die Maniq unvorstellbar. Die Kinder werden von mehreren "Müttern" betreut, auch die Väter kümmern sich um sie, der Umgang ist sehr, sehr liebevoll.

Schwingt da eine Sehnsucht nach dem guten Menschen im Naturzustand mit? Besteht nicht die Gefahr, die Dinge zu verklären?

Ich möchte sie weder romantisieren noch idealisieren, kann aber sagen: Autonomie ist für die Maniq sehr wichtig. Sie ziehen sich in den Wald zurück, denn dort sind sie wirklich autonom. Dafür zahlen sie einen hohen Preis, und das wissen sie. Die Kindersterblichkeit ist sehr hoch, nicht wenige sterben auch bei Jagdunfällen oder bei der Geburt. Aber wie gesagt: Sie sind bereit, diesen Preis zu zahlen. Wer von uns wäre dazu bereit?

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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