"Wir schaffen das nicht mehr"
Flüchtlingskinder in der Schule:
Die Anzahl von mit dem Schuljahr 2015/16 neu hinzugekommenen Flüchtlingskindern ist in Wien sehr überschaubar: Laut Stadtschulrat waren es in allen Volks- und Neuen Mittelschulen 350, darunter 38 "Taferlklassler". In Niederösterreich besuchen derzeit 1.230 asylwerbende und asylberechtigte Kinder Pflichtschulen, wobei sie sich vor allem auf die Regionen Wien Umgebung und Baden, wo auch das Aufnahmelager Traiskirchen liegt, konzentrieren. Und in der Steiermark sind es 700 Kinder - weniger als ein Prozent aller schulpflichtigen steirischen Kinder.
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Ö1 Sendungshinweise:
Über traumatisierte Flüchtlingskinder berichtete auch das Journal am 17.9.2015. Dem Thema widmete sich auch ein Radiodoktor am 13.7.2015.
Debatte:
Es gibt in Österreich nur wenige Einrichtungen, die kostenlose Psychotherapie für Kinder und Jugendliche anbieten. Eine davon ist der Verein Hemayat, für den die Psychotherapeutin Sonja Brauner tätig ist. Wie stark ein Kind durch Krieg oder Flucht traumatisiert wird, hängt immer auch davon ab, wie die Eltern sich verhalten haben, sagt Psychotherapeutin Sonja Brauner:
"Die Kinder erzählen mir immer wieder in der Therapie: 'Das Allerschlimmste war, als meine Mutter geweint hat, als mein Vater sagte, ich kann nicht mehr, wir schaffen das nicht. Wenn die Bindungspersonen sogar auf der Flucht Stärke und Stabilität zeigen, verkraften es die Kinder nach meiner Erfahrung ein Stück weit leichter."
Traumatische Langzeitwirkung

EPA
Ein Trauma zeigt sich nicht immer sofort nach der Ankunft in Österreich, sondern in vielen Fällen erst, nachdem die erste Schockstarre abgefallen ist. Neben Panikattacken sowie Schlaf- und Konzentrationsstörungen beobachtet Hemayat-Kindertherapeutin Sonja Brauner auch häufig Kinder, "die nicht mehr essen, nicht mehr trinken, nicht mehr sprechen wollten. Zeitweiser Mutismus, also das völlige Verstummen, kommt immer wieder vor."
Auch das Gegenteil zum totalen Rückzug wird immer wieder beobachtet, so die Psychotherapeutin: "Aggressivität gegen sich selbst in Form von Selbstverletzungen hat in den letzten Jahren stark zugenommen, aber auch Aggressivität gegen andere Menschen."
Spielen und reden
Mit kleinen Kindern arbeitet Sonja Brauner vor allem spieltherapeutisch. Anhand von Spielzeug wird versucht, eine Beziehung aufzubauen, Bilder werden gemalt, Orte der Sicherheit etwa in Form von Zelten, in die nur Schönes Zutritt bekommt, gebaut.
Mit Jugendlichen steht oft schon das Gespräch im Vordergrund, so die Therapeutin: "Da geht es darum, mit großer Vorsicht eine Situation zu schaffen, in der der Jugendliche in der kurzen Zeit, die er bzw. sie da ist, gute und stabile Momente erlebt. Dann ist es auch möglich, einen Blick in die Zukunft zu werfen und sich zu fragen: 'Wie kann ich mein Leben mit den Ressourcen, die ich mitbringe und die ich hier entwickle, weitergestalten?'"
Gesicherter Aufenthalt
Damit aber überhaupt über die Zukunft nachgedacht werden kann, muss die Gegenwart eine sichere Grundlage haben, sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Ruth Pöchhacker. Sie betreut im Auftrag des Jugendamtes der Stadt Wien eine Wohngemeinschaft mit acht minderjährigen männlichen Jugendlichen, die allein nach Österreich gekommen sind: "Ein gesicherter Aufenthalt, ein gesicherter Wohnort und gesichertes Dach über dem Kopf sind Grundvoraussetzungen für jede Art der psychologischen Behandlung. Wenn ich nicht weiß, ob ich an einem sicheren Ort bleiben kann, hilft es mir nicht, mit jemandem zu sprechen."
Wichtige Rolle der Schule
Beide Expertinnen für traumatisierte Flüchtlingskinder betonen, dass der Schule eine wichtige Rolle in der Stabilisierung des Lebens dieser Kinder zukommt. Dort lernen sie Deutsch, um mit ihrer neuen Umgebung überhaupt Kontakt aufnehmen zu können, dort finden sie neue Freunde und ein stabiles Umfeld. Die Schulbehörden reagieren auf die Aufnahme von Flüchtlingskindern in erster Linie mit dem Vorhaben, mehr Schulpsychologinnen und -psychologen aufnehmen zu wollen.
Therapie - und das brauchen traumatisierte Kinder - können die Schulen aber nicht leisten. Bei spezialisierten Einrichtungen wie eben dem Verein Hemayat stehen derzeit 16 Kinder auf der Warteliste für eine Therapie, Tendenz stark steigend. Aktuell beträgt die Wartezeit für ein traumatisiertes Kind mehr als ein Jahr. Seitens des Innenministeriums betont man aber auf Anfrage von Ö1, ein "offenes Ohr" für zusätzliche Förderanträge zu haben.
Elke Ziegler, science.ORF.at