So schlägt Hanappi-Egger eine umfassendere Art von Leistungsbeurteilung in der Wissenschaft vor: Nicht nur Forschungsergebnisse, sondern auch die Leistung in der Lehre und der gesellschaftliche Beitrag sollten Grundlagen für den Karrierefortschritt sein.
Weniger Gewicht sollte dabei auch auf eine "Normalbiografie" gelegt werden und stattdessen das "akademische Alter" zählen, das Karrierepausen - etwa wegen Kinderbetreuung oder Pflegediensten - berücksichtigt. Nur dann könne das "gläserne Sieb", das Männer bevorzugt, durchlässiger werden.
Außerdem im science.ORF.at-Interview: Wie sich Hanappi-Egger auf der Skala zwischen Keynes und Friedman einordnet und welche Schwerpunkte sie in ihrem Rektorat setzen will.
Sie sind die erste Frau, die an der Spitze der WU steht: Wie wichtig ist das?
Edeltraud Hanappi-Egger: Solche Fragen suggerieren immer, dass Frauen prinzipiell anders ticken als Männer. Gegen eine solche biologisierende Zuschreibung verwehre ich mich. Warum es dennoch wichtig ist, dass es Rektorinnen gibt? Ich glaube, es hat einen hohen Symbolwert und eine gewisse Vorbildfunktion. Wenn es normaler wird, dass es Rektorinnen gibt, wird sich kein Journalist und keine Journalistin mehr zu der Frage hinreißen lassen, ob das wichtig ist.
Zur Person:
Edeltraud Hanappi-Egger habilitierte sich 1996 in Angewandter Informatik an der TU Wien. Seit Oktober 2002 ist sie Professorin für "Gender & Diversity in Organizations" an der WU Wien. Hanappi-Egger war an mehreren internationalen Forschungsinstitutionen (zuletzt an der LSE und McGill University) und wurde für ihre wissenschaftlichen Arbeiten mehrfach ausgezeichnet. Forschungsschwerpunkte: Organisationsstudien zu Gender/Diversität, Gender und Technik, Feministische Ökonomie und Managementmythen.
Links:
- Wirtschaftsuniversität Wien
- Rektorat der WU
- Edeltraud Hanappi-Egger (Wikipedia)
- WU Blog
- WU Initiative for Refugees
Ö1 Sendungshinweis:
Über das Thema berichten auch die Ö1-Journale, 1.10., 12:00 Uhr, und das "Dimensionen"-Magazin, 2.10., 19:05 Uhr.
Sie sind Informatikerin, waren viele Jahre an der WU als Gender- und Diversitätsforscherin: Wie stark hat sich in der Zeit die gläserne Decke für Frauen an den Unis geändert?
Wir verlieren noch immer Frauen im Laufe der wissenschaftlichen Karrieren. Aber ich halte das nicht mehr für eine gläserne Decke, sondern für ein gläsernes Sieb.
Ein gläsernes Sieb?
Ich meine damit, dass man, um im klassischen Sinne einer wissenschaftlichen Karriere zu genügen, ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss: internationale Mobilität, starke Konzentration auf die Forschung etc. Das führt zu einem gläsernen Sieb in dem Sinne, dass es Personen leichter haben, deren Lebenskontexte erlauben, eben diese Kriterien zu erfüllen, also sehr flexibel, sozial unabhängig usw. zu sein. Und das sind statistisch gesehen mehr Männer als Frauen. Die Hauptfrage in dieser Lebensphase ist dabei die von Vereinbarkeit: Dabei geht es nicht nur um Kinder, das kann auch zivilgesellschaftliches Engagement, Sport oder Pflege bedeuten. In gewisser Weise geht es also beim gläsernen Sieb darum, dass nur ganz bestimmte Lebenskontexte dafür geeignet sind, wissenschaftliche Karrieren zu erlauben - das betrifft auch Männer, aber eben in geringerem Ausmaß.
Was können Unis daran ändern?
Ich denke, dass sie die Leistung einer Person etwas umfassender messen könnten - nicht nur, was den Forschungsoutput betrifft, sondern auch die Leistung in der Lehre und in der Third Mission, also des gesellschaftlichen Beitrags. Dann könnten auch andere Personen entsprechend Karriere machen. Wir sollten bei der Leistungsbeurteilung auch weggehen vom reinen Alter einer Person im Sinne einer "Normalbiografie", die besagt, wo man in bestimmten Altersstufen zu sein hat, hin zu so etwas wie einem akademischen Alter. Also stärker die Lebenskontexte miteinbeziehen und die Leistung in Relation setzen zum Zeitpunkt der Promotion und zum Beschäftigungsverhältnis. Das sind ein paar Aspekte in der wissenschaftlichen Leistungsbeurteilung, bei denen sich in den letzten Jahren schon ein bisschen etwas bewegt hat. Beim Wissenschaftsfonds FWF etwa gibt es Stipendien, die z. B. Karenzzeiten berücksichtigen.

Ursula Hummel, ORF
Ein etwas brachialer Themenwechsel: Sind die Wirtschaftswissenschaften überhaupt eine Wissenschaft? Das wird ja von einigen bezweifelt.
Wie der Name schon sagt: Ja, wir sind eine Wissenschaft und schaffen Wissen, und zwar über die Dynamik der Ökonomien. Wir entwickeln entsprechende Modelle und erklären anhand dieser Modelle das Wirtschaftsverhalten.
Was ich meinte, ist die Frage, ob der homo oeconomicus überhaupt existiert: diese Grundvoraussetzung der Wirtschaftswissenschaft, der zufolge Menschen Nutzen maximieren und rationale Entscheidungen treffen.
Das ist eine sehr verkürzte Darstellung. Über die Grundannahmen der Wirtschaftswissenschaft hat es ganz viel Diskurs gegeben; welche Rolle etwa Altruismus spielt und inwieweit man von diesen Rationalitäten ausgehen kann, was ja an sich ein schwaches Konzept ist. Ich glaube nicht, dass es die eine Wirtschaftswissenschaft gibt, sondern mehrere. Und das inkludiert immer einen Diskurs über unterschiedliche Theorien und Ansätze. So wie in allen Wissenschaften.
Im Gegensatz zu anderen Wissenschaften gibt es in der Ökonomie aber orthodoxe und heterodoxe, also Nicht-Mainstream-Richtungen. Was halten Sie von dieser Einteilung?
Ich glaube, sie ist ein bisschen überholt. Die Wirtschaftswissenschaften sind ein Diskursraum mit unterschiedlichen Theoriegebäuden und Annahmen. Es liegt im Wesen von Wissenschaften, sich diesem Diskurs und den verschiedenen Kritiken immer wieder zu stellen. Und das geschieht auch. Etwa wenn man diskutiert, welche Rolle Care-Arbeit in bestimmten ökonomischen Modellen spielt oder welche makroökonomischen Zusammenhänge es in Bezug auf demografische Veränderungen gibt.
Eine weltweite Initiative hat im Vorjahr die Einseitigkeit der Lehre an Wirtschaftsuniversitäten beklagt: Es werde zu viel Marktliberalismus gelehrt, weshalb es nicht nur eine Wirtschaftskrise gebe, sondern auch eine Krise der Wirtschaftswissenschaft. Betrifft das auch die WU?
Nein, die WU stellt sich dieser Auseinandersetzung, sie ist die richtige Adresse für die angesprochenen Diskurse: Wir haben von Ecological Economics bis Makroökonomie alle möglichen Lehrstühle, es gibt ganz viele Veranstaltungen, wo diese Diskurse auch geführt werden.
Üblicherweise treten Wirtschaftswissenschaftler in der Öffentlichkeit auf, um als Experten Dinge zu erklären, jüngst etwa bei der Griechenland-Krise. Ihre Botschaften sind dabei sehr oft direkte politische Handlungsempfehlungen - "mehr sparen", wie die einen sagen, "in der Krise investieren", wie die anderen sagen. Wie sehen Sie die Funktion von Wirtschaftswissenschaftlern?
Wirtschaftswissenschaften sollen Wissen generieren, das von den Wirtschaftspolitikern und -politikerinnen genutzt werden kann. Ich sehe es aber nicht als ihre Aufgabe, Tagespolitik zu kommentieren. Das kann es nicht sein. Ich würde mir wünschen, dass die Politik vermehrt auf das entsprechende Wissen zurückgreift. Die Wirtschaftswissenschaften sind aber keine Beratungsorganisationen und sollten auch keine Prognosen abgeben. Das ist nicht ihre Aufgabe - und schon gar nicht die einer Wirtschaftsuniversität.
Wo verorten Sie sich selbst auf der nach allen Seiten offenen Skala zwischen Milton Friedman und John Maynard Keynes?
Da ordne ich mich gar nicht ein.
Anders gefragt: Wo liegen Ihre wirtschaftswissenschaftlichen Wurzeln?
Nach der Informatik habe ich mich mit Organisationsstudien beschäftigt. Dabei gehe ich davon aus, dass Organisationen immer von Machtstrukturen geprägt sind, die es zu erkennen gilt, damit sie gestaltet werden können. Das gilt auch für Wirtschaftssysteme. Zudem habe ich mich stark mit feministischer Ökonomie beschäftigt; etwa mit den Fragen, wie und warum unbezahlte Care-Arbeit in makroökonomischen Modellen nicht berücksichtigt wird und wie Sichtweisen von Gender-Verhältnissen in ökonomische Theoriebildungen einfließen. Dazu habe ich viel von Nancy Fraser gelesen, die sich mit Ungleichheitsstrukturen beschäftigt und mit der Frage, wie es zu Ausschluss und Marginalisierung kommt.
Welche Verantwortung haben Wirtschaftsuniversitäten, die zukünftige Wirtschaftstreibende ausbilden, generell und gerade in Krisenzeiten?
Ich könnte jetzt zynisch antworten: Ich mache auch die Politikwissenschaften nicht verantwortlich dafür, wenn Politik versagt. Unzynisch: Natürlich haben wir auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Die Wirtschaftswissenschaften beschäftigen sich mit vielen Themen, an der WU haben wir z. B. ein Kompetenzzentrum für Nachhaltigkeit gegründet. Da geht es auch in Zusammenarbeit mit Studierenden um Fragen wie: Was heißt zukunftsfähiges Wirtschaften? Was bedeuten breitere Entscheidungsmodelle, die neben ökonomischen auch ökologische und soziale Aspekte miteinbeziehen? Dergleichen wird an der WU angeboten, bereits in den ersten Lehrveranstaltungen im Bachelorprogramm.
Vor Kurzem wurde an der WU auch ein Institut für Ungleichheitsforschung eröffnet. Warum gerade jetzt?
Das ist national wie international ein wichtiges Forschungsthema, das in den letzten Jahren viel bewusster wahrgenommen wurde, auch wenn es schon davor die eine oder andere Forschungsaktivität an der WU gegeben hat. Die WU hat erkannt, dass es dazu Forschungsbedarf gibt und sie diesen thematisch fokussiert bündeln muss.
Zu den institutionellen Fragen: Wie beurteilen Sie das Rektorat Ihres Vorgängers Christoph Badelt?
In den letzten Jahren hat sich die Arbeit des Rektorats darauf konzentriert, die WU international zu positionieren. Erst im August haben wir eine AACSB-Akkreditierung bekommen - eine internationale Qualitätsmessung. Mit unserer EQUIS- und AMBA-Akkreditierung sind wir dreifach akkreditiert. Weltweit gibt es nur 72 Unis, die diese drei Auszeichnungen haben. Zudem wurden Anreize in der Forschungsförderung gesetzt, damit wir trotz hoher Lehrbelastung auch Freiräume schaffen, damit die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gut forschen können. Last, but not least ist unter Badelt und seinem Team auch der neue WU-Campus gebaut worden - alles Errungenschaften, von denen auch das neue Rektorat profitieren wird.
Welche inhaltlichen Schwerpunkte wollen Sie setzen?
Wir wollen uns u. a. um die Lehre kümmern, besonders im Bachelor-Programm. Das beginnt bei einer neuen Willkommenskultur. Ich höre immer wieder, dass sich Studierende, wenn sie von der Schule kommen und dann durchgängig im großen Audimax sitzen, verloren fühlen. Wir wollen andere, kleinere Lernsettings in der ersten Studienphase, z. B. Gruppen bis zu 30 Personen, und erst danach die Theorien im Audimax hören. Wir überlegen auch, zu Studienbeginn stärker Student Counseling zu machen, zum Teil in Absprache mit der ÖH.
An der WU gibt es heuer rund 4.000 Studienanfänger. Für das Bachelorstudium Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (WiSo) fand ein zweistufiges Aufnahmeverfahren (Motivationsschreiben und Test) statt, für das Bachelorstudium Wirtschaftsrecht nicht. Wie zufrieden sind Sie mit dem Aufnahmesystem?
Ich halte das WiSo-Verfahren für eine Art qualifizierte Interessensbekundung der Studierenden. Die Prüfung verlangt es ihnen ab, zu überlegen, ob der Aufwand für die Prüfung das Studium wert ist. Da gibt es eine Form der Selbstselektion, und das führt in weiterer Folge auch zu einer höheren Studienaktivität. Generell ist es aber absurd, dass wir an der WU zwei unterschiedliche Systeme bei den Bachelorstudien fahren müssen, obwohl sie das erste Jahr gemeinsam haben.
Was halten Sie allgemein von Zugangsbeschränkungen?
Das ist ein schwieriges Thema, weil unterschiedliche Dinge vermischt werden. Das eine ist eine Zugangsbeschränkung im Sinne der Kapazitätsgrößen: Natürlich stoßen Unis an Grenzen, alleine wegen der Anzahl der Hörsäle und der Lehrenden. Das ist aber nicht in der Autonomie der Unis, sondern ein politischer Aushandlungsprozess. Klarheit zu schaffen, wie viele Ausbildungsstätten Unis zur Verfügung stellen sollen und mit welchen Mitteln diese finanziert werden: Das ist die politische Diskussion, die geführt werden muss.
Das heißt, Sie sind für die kapazitätsorientierten Budgets?
Ja, denn dann hätten wir wenigstens irgendeine mittelfristige Planungsgröße. Das andere ist eine Zugangsregelung, bei der eine Uni aufgrund ihrer Studien Erwartungen formuliert, welche Kenntnisse die Studierenden mitbringen sollen. Da sind Studieneingangsphasen sehr tauglich, besonders wenn sie stärker mit Orientierungsmöglichkeiten verknüpft sind; um Studierenden einen besseren Einblick zu geben, was sie vom Studium erwarten dürfen, was aber auch das Studium für Erwartungen an sie selbst hat.
Aktuelle Schlussfrage: Wie engagiert sich die WU in Sachen Flüchtlingen?
Da gibt es mehrere Initiativen. Z. B. beteiligen wir uns an der MORE-Aktion der uniko. Ziel ist es, den Menschen neben der Versorgung mit dem Notwendigsten auch die Möglichkeit der Teilnahme an Bildung zu geben. Sie erhalten den Status der "Mobilitätsstudierenden", können damit verschiedene Kurse besuchen und auch die Bibliothek nutzen. Nachweise für Hochschulreife sind dazu nicht erforderlich. Gleichzeitig finden an der WU bereits Deutschkurse für Flüchtlinge statt. Zum anderen planen wir, Menschen mit Asylstatus, die regulär an der WU studieren möchten, die Zulassung zum Studium zu erleichtern, indem Alternativen zu den erforderlichen Dokumenten, die möglicherweise nicht verfügbar sind, gesucht werden.
Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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