Ende der 1970er entstand in den USA eine folgenreiche Studie: Thomas Allen, mittlerweile emeritierter Managementprofessor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), untersuchte, wie sich die räumliche Distanz zwischen Büroangestellten auf deren Kommunikationsverhalten auswirkt.
Das Resultat ist heute als "Allen Kurve" bekannt: Das Diagramm zeigt, wie wahrscheinlich es ist, dass zwei Mitarbeiter einer Organisation miteinander kommunizieren. Und diese Wahrscheinlichkeit nimmt mit der physischen Entfernung der beiden Beschäftigten stark ab. Allen definierte eine 50-Meter-Grenze. Sitzt eine Person außerhalb dieses Radius, dann findet gar keine Kommunikation mehr statt.
Die "Allen-Kurve" und ihre Folgen
Schon bald wurde die "Allen-Kurve" zu einem der wichtigsten Argumente von Managementtheoretikern und Unternehmensberatern: Zunächst wurde das Großraumbüro als Lösung angepriesen. Im "Open Office" können wesentlich mehr Mitarbeiter auf wesentlich kleinerem Raum untergebracht werden.
Doch wenn es plötzlich keine Wände mehr gibt, sieht man, dass nicht ständig alle Schreibtische besetzt sind: Auswärtstermine, Pausen, Urlaube oder Krankenstände sorgen dafür, dass der Büroraum optisch weniger arbeitsam daherkommt, als sich die Manager das wünschen. Auch dafür hatte Thomas Allen eine Lösung: das "non-territoriale Büro" - sprich Wechselarbeitsplätze.
Was in unseren Breiten gerne als "Desksharing" bezeichnet wird, heißt im englischsprachigen Raum auch "Hoteling" (diese Bezeichnung stammt von den Unternehmensberatern Ernest and Young) oder "Hot desking" - abgleitet vom "Hot racking", einem Begriff aus der Seefahrt. Die Matrosen legen sich nach ihrer Schicht üblicherweise in eine bettwarme Schlafkoje, aus der ihr Kamerad, den nun seine Schicht antritt, gerade aufgestanden ist.
Kein Platz für Privates
Für das Leben im Büro bedeutet das, dass alles Persönliche am Ende des Arbeitstages wieder zu verschwinden hat - die sogenannte Clean Desk Policy. Einen eigenen Arbeitsplatz, den die Arbeitnehmer mit Fotos, Pflanzen oder Bildern personalisieren können, gibt es nicht. Und das, obwohl arbeitspsychologische Studien seit den 1970er Jahren darauf hinweisen, dass Menschen territoriale Wesen sind, die sich an einem eigenen Schreibtisch wohler fühlen, als auf ständig wechselnden Arbeitsplätzen.
Die Universität Exeter konnte im vergangenen Jahr in einer Untersuchung zeigen, dass Beschäftigte mit Pflanzen auf und um ihren Tisch kreativer und produktiver sind. Eine Studie der Universität Stockholm unter rund 2.000 Angestellten kam zum Ergebnis, dass die Fehlzeiten in Großraumbüros mit Wechselarbeitsplätzen fast doppelt so hoch sind, wie in kleineren Büros.
Hinzu kommt: Sich täglich einen neuen Arbeitsplatz suchen zu müssen, womöglich auch mehrmals, ist ein zusätzlicher Aufwand für die Angestellten, der unbeachtet bleibt. Auch das sorgt dafür, dass Beschäftigte im Großraumbüro mit Wechselarbeitsplätzen unzufriedener sind als solche in Kleinbüros. Warum Unternehmen dennoch auf Thomas Allens Theorie setzen: Im Großraumbüro mit Wechselarbeitsplätzen können bis zu 20 Prozent der Miet- und Betriebskosten eingespart werden.
Ö1 Sendungshinweis:
Radiokolleg über "Vom Fließband zum Clean Desk. Ideen, Ideologien und Irrtümer der Arbeitsplatzgestaltung": 5.-8.10. 2015, 9:05 Uhr. Gestaltung: Marlene Nowotny

Ursula Hummel-Berger, ORF
Zeichen der Flexibilisierung
Nach Ansicht des Soziologen Jörg Flecker von der Universität Wien kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Der Trend in der Bürogestaltung ist mit einer zunehmenden Flexibilisierung in der gesamten Arbeitswelt verbunden: "Die Leute werden nicht mehr nur täglich an einen neuen Arbeitsplatz gesetzt, man versucht das auch mit wechselnden Tätigkeiten zu verbinden." Die Arbeitsprozesse werden dafür kleinteilig gestaltet, es gibt genaue Vorgaben und dank neuer Informationstechnologien können Unterlagen und Dokumente auch schnell weitergegeben werden.
Individuelle Fähigkeiten verlieren in diesem System an Bedeutung, betont der Soziologe. "Eine Studie, die in Großbritannien gemacht wurde, hat eine Gemeindeverwaltung untersucht, die auf genau dieses System umgestellt hat. Dort haben die Beschäftigten nicht nur jeden Tag einen neuen Schreibtisch gehabt, sondern auch eine andere Abteilung, einen anderen Chef und andere Kollegen", sagt Jörg Flecker. Im Großraumbüro mit flexiblen Arbeitsplätzen wurden die Mitarbeiter von nun an dort eingesetzt, wo tatsächlich auch Bedarf bestand: heute in der Weiterbildung, morgen in der Systemanalyse, in einem Monat in der Kundenbetreuung.
Die "Intrapreneure" kommen
Parallel zum Siegeszug des offenen Büros sind auch neue Leitbilder in punkto Unternehmenskultur entstanden. Zwar wäre die Kontrolle der Angestellten in Büroräumen ohne Wände per se einfacher. Aber vor 20 Jahren hat man diese Aufgabe ohnehin an die Beschäftigten selbst delegiert.
Sie sind nicht länger Befehlsempfänger, sondern Unternehmer im Unternehmen, sagt der Arbeitssoziologe Ulrich Brinkmann von der Technischen Universität Dortmund und Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien (IWM). Er bezeichnet diesen Umbruch als "Output-Orientierung". "Das heißt, dass nicht die Arbeitsprozesse selbst im Unternehmen kontrolliert werden, sondern ausschließlich das Ergebnis", erläutert Brinkmann.
Die Selbstkontrolle entbindet das Management von der Aufgabe, die Arbeitsprozesse gestalten zu müssen. Diejenigen, die ihre Arbeit selbstständig gestalten, sind auch für die Ergebnisse ihrer Arbeit verantwortlich. Von den Beschäftigten wird unternehmerisches Denken verlangt, sie werden zu "Intrapreneuren" des Unternehmens.
Selbstkontrolliert ins Burnout
Eine neue Form der Kontrolle, die billig ist und durchaus effektiv. Denn getarnt als ein "mehr an Verantwortung", wird die Selbstkontrolle von den Beschäftigten prinzipiell gerne umgesetzt. Die Hierarchie wird flacher und die Arbeitnehmer konkurrieren plötzlich innerhalb des Unternehmens miteinander, auf den "internen Märkten" ihres Arbeitgebers.
"Heute wird von den Beschäftigten verlangt, dass sie selbst alle Leerläufe, alle Puffer, im Betrieb identifizieren und eliminieren", sagt Ulrich Brinkmann. Theoretisch gehen diese Prozesse bis zur "Selbstentlassung", wenn ein Arbeitnehmer feststellt, dass er oder sie nicht mehr effektiv genug arbeitet.
"Dadurch entsteht ein Rollenkonflikt, der für den einzelnen nicht auflösbar ist", erläutert der Soziologe weiter. "Und es ist nicht verwunderlich, dass mit dieser neuen Unternehmenskultur auch Phänomene wie Burnout stark zugenommen haben".
Marlene Nowotny, Ö1 Wissenschaft
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