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Porträtfoto des Philosophen Martin Heidegger

Gemeinsam auf Holzwegen?

Dass der Philosoph Martin Heidegger ein Nazi war, ist – allen, die es wissen wollten – lange bekannt; seit dem Vorjahr dank neu veröffentlichter Schriften ist auch eindeutig, dass er Antisemit war. Warum aber ist Heidegger bis heute auch für linke Denker reizvoll? Eine Spurensuche.

Philosophie 28.10.2015

"Ein französischer Philosoph"

Martin Heidegger war seit 1933 NSDAP-Mitglied, kurzzeitig Rektor an der Universität Freiburg und bekannte sich zum Führerprinzip. Seine Begeisterung für den real existierenden Nationalsozialismus ließ zwar relativ schnell nach. Aber noch Jahre nach dem Krieg bekannte er sich zur "inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung". Worte des Bedauerns über den Holocaust sind nicht bekannt. Und so durfte Heidegger, als die Alliierten Deutschland besiegt hatten, nicht mehr unterrichten.

Er erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste schließlich emeritieren. Auf die philosophische Bühne zurück kehrte er ausgerechnet durch ein Land, das zu einem der ersten Ziele von Hitlers Aggression gezählt hat: Frankreich. Sein Nazitum wurde zwar diskutiert, änderte aber nichts daran, dass er sehr schnell zu den "drei großen H" der französischen Nachkriegsphilosophie zählte: Hegel, Husserl und Heidegger.

Der Philosoph und Soziologe Oliver Marchart von der Kunstakademie Düsseldorf: "Für manche war Heidegger ein französischer Philosoph, er wurde eingemeindet." Der Deutsche wurde in Frankreich zum Ahnherrn von Existenzialismus und Postmoderne. Reizvoll war der Deutsche für die Franzosen, weil er eine Überwindung der Subjektphilosophie versprach. Also einer Philosophie, bei der das Subjekt im Mittelpunkt der Erkenntnis steht. "Cogito, ergo sum - Ich denke, also bin ich", hatte Descartes im 17. Jahrhundert gesagt. Und diese Tradition dominierte in Frankreich.

"Schwarze Hefte"

Dabei handelt es sich um Notizen von Gedanken, die sich Martin Heidegger zwischen 1931 und Anfang der 70er Jahre gemacht hat. Ihren Namen haben sie von der Farbe ihres Einbands. Bisher sind Schwarze Hefte aus den Jahren 1931 bis 1948 erschienen. Darin sind zwar nicht viele antisemitischen Stellen enthalten. Sie haben aber eine wichtige strategische Position und greifen plumpe Vorurteile auf.

Antisemitische Zitate aus den "Schwarzen Heften"

"Die Juden 'leben' bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen. Die Einrichtung der rassischen Aufzucht entstammt nicht dem 'Leben' selbst, sondern der Übermächtigung des Lebens durch die Machenschaft. Was diese mit solcher Planung betreibt, ist eine vollständige Entrassung der Völker. … Mit der Entrassung geht eine Selbstentfremdung der Völker in eins – der Verlust der Geschichte."

"Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche 'Aufgabe' übernommen hat."

"Die zeitweilige Machsteigerung des Judentums aber hat darin ihren Grund, dass die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit, die sich auf solchem Weg eine Unterkunft im 'Geist' verschaffte."

Ö1 Sendungshinweis

"Gemeinsam auf Holzwegen. Martin Heideggers Spuren in der zeitgenössischen Philosophie". Eine Sendung von Lukas Wieselberg: Dimensionen 27.10, 19.05 Uhr

Bücher

  • Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung,
  • Martin Heidegger: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948),
  • Martin Heidegger: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941),
  • Martin Heidegger: Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39),

alle erschienen im Verlag Vittorio Klostermann

  • Oliver Marchart: Die politische Differenz, suhrkamp taschenbuch wissenschaft
  • Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Jargon der Eigentlichkeit, suhrkamp taschenbuch wissenschaft
  • Peter Trawny: Irrnisfuge. Heideggers An-archie, Matthes & Seitz Berlin
  • Victor Farías: Heidegger und der Nationalsozialismus, Fischer-Verlag
  • Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Matthes & Seitz Berlin
  • Tom Rockmore: Heidegger und die französische Philosophie, zu Klampen Verlag

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Von Destruktion zu Dekonstruktion und Genealogie

Heidegger hat diese Tradition kritisiert, und darauf basiert sein Erfolg in Frankreich. Michel Foucault etwa bekannte, dass Heidegger für ihn jener "Philosoph war, der sein gesamtes Werden bestimmt hat." Inspirieren ließ sich Foucault etwa dadurch, wie Heidegger mit Begriffen umgegangen ist. Der Wiener Philosoph Matthias Flatscher: "Heidegger hat versucht, darauf aufmerksam zu machen, dass die Grundkategorien, mit denen wir die Welt beschreiben, nicht vom Himmel gefallen sind, sondern einer historischen Genese unterliegen: Und diese versucht er kritisch zu befragen."

Ein Beispiel: der griechische Begriff der "Hylé". "Hylé" wird in der Philosophie mit "Stoff" oder "Materie" übersetzt. Zwei ganz fundamentale Begriffe. Dabei war "Hylé" ursprünglich gar nicht abstrakt gemeint, sondern sehr anschaulich. Es bedeutete nämlich Holz oder Wald. Und Holz oder Wald sind etwas, das man nutzen und behandeln kann. Und dieses Nutzen- und Behandeln-Können von Holz geht in den Begriff der "Materie" über.

Darauf macht Heidegger aufmerksam. Er nannte das die Destruktion von Begriffen. An dieser Methode knüpfte später Jacques Derrida mit seiner Dekonstruktion an. Aber auch Michel Foucault mit seiner Genealogie – "ein Grundmoment, sich in einer reflektierten Art und Weise mit Geschichte auseinanderzusetzen", wie es der Wiener Philosoph Matthias Flatscher ausdrückt.

Freilegung von Bedeutungen

Die Methode ähnelt der Archäologie: Archäologen graben an historischen Stätten. Sie tragen vorsichtig Schicht für Schicht ab und hoffen zum Schluss etwas Ursprüngliches zu finden. Ein Grabmal, Knochen oder andere Überbleibsel der Geschichte. Heidegger hat nicht Knochen ausgegraben, aber Begriffe. Er war auch eine Art Archäologe. Und Foucault hat das weitergesponnen. Der Philosoph Christian Schmidt von der Universität Leipzig: "Heidegger steckt z.B. dort in Foucault, wo er versucht die Ordnung des Wissens zu rekonstruieren: etwa die praktischen Orientierungen der Sexualität oder des Gefängnisses."

Dieser Zusammenhang bildet die Ordnungen des Wissens, wie es Foucault genannt hat. Sie entstehen aus dem, was Menschen tun: Wie sie etwa ihre Sexualität ausleben oder wie sie mit Kranken oder Verbrechern umgehen. Drei Fragen, mit denen sich Foucault intensiv beschäftigt hat. Die Praktiken fallen nicht vom Himmel. Sexualität etwa wurde in der Antike ganz anders gelebt als im Mittelalter oder in der Gegenwart. So wie Heidegger auf die Geschichtlichkeit von Denkkategorien verweist, macht dies Foucault bei Praktiken.

Denn Heidegger hat gelehrt, dass es keine letzten Gründe gibt. Wie Sex gelebt wird oder Gefängnisse gebaut werden, kann nicht letzt-begründet werden, sondern entsteht konkret historisch. Darin steckt ein radikaler Gedanke von Freiheit. Christian Schmidt von der Universität Leipzig hält Heidegger deshalb vor allem für einen Philosophen der Freiheit.

Das Politische und die Politik

Das ist zumindest eine Möglichkeit, das Heidegger'sche "Sein" zu verstehen. Dieses Sein ist aber auch eine Art Verständnishorizont. Die Grundlage, auf der man erst etwas sagen kann Und es hat auch etwas von einem Boden, von dem sich alles Seiende erst abhebt. In diesem Sinne ist die bekannteste Denkfigur von Heidegger zu verstehen: die ontologische Differenz. Mit ontologischer Differenz bezeichnet Heidegger den Unterschied zwischen Sein und Seiendem. Also zwischen dem, was man in der Welt vorfindet und beschreiben kann und dem was jedem Vorfinden und Beschreiben vorausgeht. Wo sich da die Freiheit versteckt?

Das versteht man vielleicht am besten, wenn man eine Analogie herstellt zwischen Sein und Politik. Statt Sein und Seiendem steht nun: die Politik und das Politische. Auf der einen Seite gibt es da die Politik in unserem Alltagsverständnis: die Arbeit von Politikern, Reden im Parlament, Sitzungen in Gremien, Händeschütteln vor Wahlen etc. Auf der anderen Seite steht "das Politische". Wie schon das Sein bei Heidegger ist dieses "Politische" eine Art Fundament. Nur baut hier nicht das Seiende auf, sondern die Politik. "Das Politische" ist quasi die Grundlage von Politik im Alltagsverständnis. Sie ist eine Grundlage, aber kein letzter Grund.

Für Oliver Marchart von der Kunstakademie Düsseldorf ist es dieses Politische, das erklärt, warum wir zum Beispiel in einer Demokratie leben. Und nicht im Faschismus wie zu Heideggers Zeiten. "Das Politische kann Gesellschaft nur vorübergehend gründen aufgrund der Abwesenheit einer Letztbegründung. Wäre eine Letztbegründung möglich, wären wir immer noch im Feudalismus befangen, wo es ein göttliches Gesetz gab. Das Politische können wir nur modern denken: in einer Zeit, in der die ständische Gesellschaft, in der die soziale Ordnung als stabil erachtet wurde, verlorengegangen ist."

Ein Ab-Grund für die Linke

Dieses Politische ist quasi der Ab-Grund der Gesellschaft. Ein Grund, der begründet. Und ein Ab-Grund, den man nicht richtig zu fassen kriegt. Mit dem Wort "Ab-Grund" begibt man sich in die Sprache von Martin Heidegger. Er hat diesen Ab-Grund für das Sein reserviert. Man kann ihn aber auch produktiv machen für die Politik. Zahlreiche Philosophen haben das getan. Von Michel Foucault über Jaques Derrida bis Alain Badiou und Jean-Luc Nancy.

Das Verblüffende daran: Fast alle von ihnen stehen politisch links, der eine mehr, der andere weniger. Heidegger war für sie alle der Wegbereiter für mehr oder minder radikal-demokratische Konzepte. Und das obwohl Heidegger selbst ganz andere politische Schlüsse gezogen und - wie erwähnt - Hitler verehrt hat.

Er sah in Hitler einen Vollstrecker der Freiheit und im nationalsozialistischen Deutschland eine Kraft, die an die griechische Antike anknüpfen kann. Während ihn viele seiner philosophischen Freunde aus Frankreich als Impulsgeber für radikale demokratische Projekte feierten, schrieb er in seinen Schwarzen Heften plumpe antisemitische Zeilen.

Ist er damit ein konsequenter Nazi? Oder hat er die Folgen seiner eigenen Philosophie missverstanden? Faschismus ist jedenfalls nicht zwingend, nur weil eine Letztbegründung des Seins oder der Gesellschaft fehlt. Im Gegenteil, meint der Philosoph Oliver Marchart: "Wenn ein letzter Grund nicht zur Verfügung steht, folgt daraus nicht, dass wir deshalb zu einer faschistischen Neugründung gezwungen werden, sondern jegliche Gründung ist möglich: eine faschistische, aber auch eine emanzipatorische."

Verstanden Franzosen Heidegger besser als er sich?

Philosophen wie Michel Foucault oder Jaques Derrida haben sich auf die emanzipatorischen Möglichkeiten bezogen, die Heideggers Denken auch eröffnet. Haben sie ihn besser verstanden als er sich selbst? Vielleicht ist diese Frage unwichtig. Jedes Lesen eines Textes ist immer eine Neuinterpretation. Missverständnisse können kreativ sein, erst recht bei einer Sprache, wie sie Heidegger verwendet, die zwar oft vieldeutig und dunkel, aber auch poetisch klingt. Und zum Teil auch komisch. Da nichtet das Nichts, das Wesen west, und das Ding dingt.

Auch vor sich selbst macht Heidegger nicht halt, wenn es in den Schwarzen Heften etwa heißt: "Heid-egger – einer, der auf unangebautes Land, Heide, trifft und diese eggt. Aber der Egge muss er erst lang einen Pflug durch Steinäcker vorausgehen lassen."

Diese Äcker aus Stein waren für Heidegger das abendländische Denken. Das Sein war darin vergessen und verdorrt. Heidegger wollte diese Geschichte umpflügen. Leider blieb er dabei auf dem deutschen Boden kleben. Die einzige Ernte, die ihm in den Sinn kam, war ein bodenständiger Faschismus. Seine Nachfolger in Frankreich hatten mehr Phantasie. Sie haben den Ab-Grund des Seins verstanden als Freiheit. Als Unmöglichkeit, Gesellschaft auf ein sicheres, für alle Zeiten bestehendes Fundament zu stellen.

Wenn es diese Letztbegründung nicht gibt, dann müssen wir alle die Regeln für unser Zusammenleben selbst bestimmen. Und das ist letztlich ein Plädoyer gegen jedes autoritäre Denken. Auch wenn das Heidegger selbst nicht in den Sinn gekommen ist.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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