1995 wurde die Theorie endlich Realität. In diesem Jahr wiesen Forscher des Europäischen Kernforschungszentrums CERN erstmals Antiwasserstoff in einem Teilchenbeschleuniger nach. Also Atome mit einer positiv geladenen Hülle und einem negativ geladenen Kern - genau umgekehrt, wie das bei der handelsüblichen Materie der Fall ist.
Mittlerweile ist die Technik deutlich weiter gediehen. Physiker des Brookhaven National Laboratory haben kürzlich einen Atomkern hergestellt, der aus zwei Antiprotonen und zwei Antineutronen besteht. Das Antiteilchen ist nicht nur das bisher größte seiner Art, es eignet sich auch, um die exakten Kräfte in dessen Inneren preiszugeben.
"Es passt zu gut"
Die Studie
"Measurement of interaction between antiprotons", Nature (4.11.2015).
Das Team um den Physiker Aihong Tang hat bei diesem Teilchen nun die sogenannte starke Kernkraft genauer unter die Lupe genommen. Diese Kraft ist dafür verantwortlich, dass der Atomkern nicht auseinanderbricht. Das gilt für die normale Materie genauso wie für die Antimaterie.
Wie Tang und seine Kollegen im Fachblatt "Nature" schreiben, ist die Symmetrie der starken Kernkraft offenbar perfekt. Sie verhält sich in der Antimaterie genauso, wie es die Theorie vorhersagt. Die physikalischen Gesetze gelten mit umgekehrtem Vorzeichen auch in der Antiwelt.
Video: Der STAR-Detektor, mit dem die Versuche durchgeführt wurden
Das ist ein neuer Triumph für das sogenannte Standardmodell der Elementarteilchen - und dennoch eine herbe Enttäuschung. "Es passt einfach alles zu gut", kommentiert Jochen Schieck vom Akademie-Institut für Hochenergiephysik die Arbeit seiner Kollegen aus Brookhaven. Denn die allzu glatten Ergebnisse bieten keinen Haltegriff für ein anderes, ganz grundsätzliches Problem.
Unerklärliche Asymmetrie
Der Symmetrie der Kernkraft steht nämlich eine gigantische Asymmetrie im Kosmos entgegen. Im Universum ist der Anteil der Antimaterie verschwindend gering. Wohin man auch schaut, überall dominiert die Art von Materie, wie wir sie kennen. Und sofern doch einmal ein Stückchen Antimaterie entsteht, ist binnen kurzer Zeit die normale Materie zur Stelle und vernichtet ihr Gegenstück. Alles was übrig bleibt, ist Energiestrahlung.
"Nach dem Urknall sind genau gleich viel Materie und Antimaterie entstanden", sagt Tang. "Aber das ist nicht das, was wir heute beobachten. Das Ganze ist ein großes Mysterium!"
Das Mysterium lässt sich auch in Zahlen fassen. Wäre das ansonsten glänzend bestätigte Standardmodell der Weisheit letzter Schluss, müsste es millliardenfach mehr Antimaterie geben als das tatsächlich der Fall ist.
Alles nur Zufall?
Das Problem beschäftigt die Wissenschaft nicht erst seit dieser Studie. Bereits in den 60er Jahren schlug der russische Physiker Andrei Sacharow einen Mechanismus vor, der die Vorliebe der Natur für die normale Materie erklären könnte. Diese sogenannten CP-Prozesse wurden mittlerweile auch nachgewiesen. Aber sie helfen nicht wirklich, denn sie sind viel zu selten.
So bleiben nur zwei andere Erklärungsansätze. Möglichkeit eins wäre, einfach den historischen Zufall zu bemühen. Vielleicht kam es im jungen Universum zu einer Fluktuation, die sich in Äonen zur heutigen Asymmetrie ausgewachsen hat? Dieses Szenario könne man zwar nicht ausschließen, sagt Jochen Schieck, befriedigend sei das jedenfalls nicht: "Der Zufall wäre schon sehr, sehr, sehr groß."
Gesucht: Die Super-Theorie
Möglichkeit zwei wäre bei einer neuen Theorie Zuflucht zu suchen, die das Standardmodell gewissermaßen als Teilmenge enthält und außerdem Neues zum Thema Antimaterie zu sagen hat. Wenn es um die großen offenen Frage der Physik geht, fällt meist ein Name: Supersymmetrie.
Die Theorie postuliert, dass jedes bekannte Teilchen mindestens ein Partnerteilchen besitzt. Sie könnte mit diesem Ansatz, so zumindest die Hoffnung, vieles erklären - das Antimaterieproblem, die Natur der Dunklen Materie und nicht zuletzt auch jene der Dunklen Energie.
Doch bisher blieb es bei der Möglichkeitsform. Denn nachgewiesen wurde die Theorie noch nicht. Alles, was die Physiker in Händen halten, sind unbestätigte Hinweise, wie etwa eine CERN-Studie vom August dieses Jahres, in der sich der Schatten eines neuen Higgs-Teilchens gezeigt haben könnte.
Die Forscher des CERN sind es denn auch, auf die die Fachgemeinde in der Causa Antimaterie setzt. Vielleicht zeigen die aktuellen Teilchenkollisionen in dem Forschungszentrum bei Genf, wie die Antiwelt aus dem Universum verschwand.
Robert Czepel, science.ORF.at
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