Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit: Ein WHO-Bericht kam zum Schluss, Fleisch und Wurst erhöhe das Risiko für Darmkrebs. Sie sagen, es gebe ein Missverhältnis zwischen Angst und wirklicher Gefahr. Aber im Fall der WHO war doch das Gegenteil der Fall. Die WHO war recht sachlich und bei den Wurstverfechtern ist Hysterie ausgebrochen?.
Walter Krämer ist Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund. Er hat zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher verfasst, unter anderem "So lügt man mit Statistik", "Lexikon der populären Irrtümer" und "Die Angst der Woche. Warum wir uns vor den falschen Dingen fürchten". Im Rahmen einer Veranstaltung der IG Pflanzenschutz hielt er einen Vortrag ihn Wien. In seinen Ausführungen kritisiert er regelmäßig Medien, Mediziner und Umweltorganisationen.
Krämer: Ja, weil es ein ungerechtfertigter Angriff war. Da musste man sich wehren. Es beginnt damit, dass absolutes und relatives Risiko verwechselt wurde. Wenn die WHO meldet, dass Wurst das Risiko um 20 Prozent erhöht, dann denken die Leute: "Aha, da sterben 20 von hundert Menschen an Darmkrebs, weil sie Wurst gegessen haben." Das ist Blödsinn.
Wenn da so ist, können die Menschen aber offenbar nicht lesen? Dafür braucht man noch gar keine Statistik.
Das stimmt. Das Umgehen mit Prozenten ist keine große Stärke der Mitteleuropäer. Das sind die Deutschen und die Österreicher gleich schlecht.
Dann handelt es sich aber eigentlich um eine Bildungslücke?
Ja, mit Sicherheit. Es gibt Leute mit Abitur, die nicht Bruchrechnen können. Solche Leute sitzen dann in meinen Klausuren. Wenn sie "½ + ½" rechnen, kommen sie auf "2/4".
Die statistischen Defizite mal ausgeklammert. Konkret bedeutet die Erhöhung des Darmkrebsrisikos laut WHO: Statt sechs erkranken sieben Personen von hundert an Darmkrebs. Was sagen sie zur siebten?
Wenn wirklich die Wurst der Bösewicht war, hätte er besser keine Wurst gegessen. Ich vermute aber, man hat hier - wie so oft, das ist leider bei epidemiologischen Studien eher die Regel als die Ausnahme - gewisse weitere Hintergrundvariablen einfach vergessen.
Also in meinem persönlichen Umfeld sind die großen Wurstesser - die Kampfgriller, die auch im Winter ihre Bratwürste grillen - jene, die natürlich dabei auch gewaltig rauchen. Ich bin nicht sicher, wie Faktoren wie das Rauchen tatsächlich rausgerechnet worden sind. Das ist einer der häufigsten Fehler überhaupt bei diesen Studien: Man weiß nicht, was die wirkliche Ursache ist, und verwechselt Korrelation und Kausalität. Neun Zehntel aller epidemiologischen Studien sind "Schrott".
Haben Sie die WHO-Studie gelesen?
Ö1 Sendungshinweis:
Über unseren Umgang mit Statistiken berichtet auch Wissen Aktuell" am 28. November 2015 um 13.55 Uhr.
Bis jetzt gibt es ja nur die zweiseitige Zusammenfassung in "Lancet". Die habe ich natürlich gelesen. Die entscheidenden Fakten stehen dann erst in der noch nicht veröffentlichten Monographie. Aber ich habe das ja nicht zum ersten Mal gemacht. Ich bin seit 30 Jahren Statistiker und habe in meinem Leben um die 3.000 Studien gelesen, 2.500 davon waren "Schrott", weil die Leute keine Ahnung haben, wie man alle möglicherweise erklärenden Variablen sinnvoll miterfasst. Wenn man nur eine davon vergisst - die wichtigste ist "Raucht der Mensch?" -, ist die Studie vollkommen wertlos.
All diese Forscher machen also schlechte Wissenschaft?
Ich sage nicht, dass alle Scharlatane sind, aber es ist eben eine sehr schwierige Angelegenheit, die mit Fallstricken gespickt ist. Selbst der seriöseste Forscher oder die seriöseste Forscherin ist nicht gefeit davor. Die Zeitschrift "Science" hat z.B. die wichtigsten Krebsmeldungen der letzten Jahre auf Wahrheitsgehalt abgeklopft und kam zum Schluss: Alle waren falsch. Keine einzige Studie konnte repliziert werden. Alle hatten etwas vergessen, wenn auch meist nicht mit Absicht.
Die WHO hat ja nicht mit Einzelstudien gearbeitet.
Nein, es war eine Metaanalyse. Da gehen bei mir erst recht alle Alarmglocken los. Wenn man aus vielen Einzelstudien ein Ganzes bastelt, hat man einen riesigen Spielraum, etwas wegzulassen bzw. einzubeziehen. Ich habe den bösen Verdacht, dass gewisse Leute von vorherein wissen, was sie gern hätten und dann alles weglassen, was ihnen nicht in den Kram passt.
Aus welchem Interesse?
In Österreich oder Deutschland ist das Interesse von Organisationen wie Foodwatch oder Global 2000 jedenfalls: Sie wollen Spenden einwerben. Die bekommen sie nur dann, wenn sie Leute beunruhigen. Deswegen wird die Panikmelodie gespielt.
Anderes Beispiel: das Pflanzenschutzmittel Glyphosat. Letzte Woche hat die EFSA empfohlen, den Wirkstoff erneut zuzulassen, obwohl ihn das Krebsforschungszentrum der WHO vor Kurzem als "wahrscheinlich krebserregend" eingestuft hat. War das auch reine Panikmache?
Der Punkt ist: Alles, was sie anfassen, ist in hohen Dosen Gift. "Die Dosis macht das Gift" - sagte schon Paracelsus - übrigens meines Wissens die einzige naturwissenschaftliche Theorie, die 500 Jahre überdauert hat und heute noch unwidersprochen gilt. Anders gesagt: Jeder Stoff ist über einer gewissen Dosis giftig, unter einer gewissen Dosis aber ungiftig. Selbst an Trinkwasser können sie sich vergiften, da gibt es Fallbeispiele.
Also ist Glyphosat aus Ihrer Sicht unbedenklich?
Ich bin kein Toxikologe. Ich muss mich da auf Experten verlassen, z.B. auf den angesehensten Lebensmitteltoxikologen Bruce Ames weltweit. Der sagt, das 99,99 Prozent aller Schadstoffe und Gifte in unserer Ernährung von Natur aus drin sind, nur 0,01 Prozent werden durch die Bauern, die Verpackung, den Handel, etc. nachträglich hinzugefügt.
Unsere Medien stürzen sich mit Gusto auf die 0,01 Prozent und ignorieren den ganzen Rest. Wenn sie z.B. zwei Kilo ungeschälte Biokartoffel essen, überleben sie das nicht. Da ist haufenweise giftiges Solanin drin. Alle Pflanzen produzieren von Natur aus derartige Schädlingsbekämpfungsmittel. Diese Tatsache kann man den Leuten von den Umweltorganisationen einfach nicht beibringen. Weil die Natur ist ein schlechter Sündenbock.
Aber in der Regel werden die Studien doch von Wissenschaftlern gemacht?
Aber sie nehmen es mit den Fakten nicht so genau bzw. nehmen sie die Fakten einfach sehr selektiv wahr. Die allergrößte Selektion findet bei Risiken statt - je nachdem, ob sie natürlich oder künstlich sind. Natürliche Risiken werden systematisch ignoriert, auch wenn sie tausend Mal größer sind als die künstlichen.
Sie sind ja heute hier eingeladen von der IndustrieGruppe Pflanzenschutz. Das Thema Ihres Vortrags: Gibt es einen Konsens über zumutbares Risiko? Gibt es einen?
Die Crux ist, dass wir uns nicht einigen können, wie hoch die Risiken sind. Man kann sie nicht einfach messen, wie Wasserstand, Temperatur oder Luftdruck. Jeder versteht darunter etwas anderes, und Menschen schätzen Risiken systematisch katastrophal falsch ein.
Ein Beispiel?
In Deutschland gibt es jedes Mal, wenn ein Castor (Spezialbehälter zum Transport von radioaktivem Material, Anm.) transportiert wird, Riesenaufstände. Die Leute ketten sich an, beklagen sich über die Verstrahlung. Die gleichen Menschen fliegen, ohne zu murren, mehrfach jährlich nach New York und kriegen dabei ein Mehrfaches der maximalen Strahlenbelastung eines Castors ab. Aber da sie das freiwillig machen, interessiert es sie nicht. D.h., freiwillige und natürliche Risiken werden dramatisch runtergewichtet, unfreiwillige und künstliche werden dramatisch hochgewichtet.
Sie kritisieren ja gern aus einer unabhängigen Position. Haben Sie nicht Angst, wenn Sie von einer Interessenvertretung wie der IG Pflanzenschutz eingeladen sind, dass Sie für deren Interessen eingespannt werden?
Ich vermute, das geht eher anders herum. Meine Gastgeber haben vermutlich etwas von mir gelesen und sich gedacht: Endlich mal jemand, der die Wahrheit sagt, und darum haben sie mich eingeladen. Ich lasse mir das, was ich für wichtig halte, nicht vorschreiben.
Sie sind selbst Statistiker. Wozu brauchen wir diese überhaupt, wenn man uns meistens damit nur sinnlos Angst macht?
Angst machen kann man mit allem: mit Bildern, mit Texten. Statistiken kann man wie jedes andere Instrument sowohl ge- als auch missbrauchen.
Zu komplexeren Risiken: Meist wird nur berichtet, wenn der Mensch betroffen ist, wenn etwas beispielsweise potenziell krebserregend ist, wie beim Fleisch und beim Pflanzenschutz. Dabei ist Fleisch ja auch aus tierethischen oder ökologischen Gründen bedenklich, Ähnliches gilt beim Pflanzenschutz. Ist uns das alles egal, Hauptsache wir bekommen keinen Krebs??
Sie haben Recht. Beim Fleisch ist es so, dass das Preissystem nicht funktioniert: Fleisch ist zu billig. Wäre es teurer, würden die Menschen automatisch weniger essen. Solche Argumente überzeugen mich als Statistiker. Ich bin zudem Ökonom, also ein Effizienztier. Auch tierethische Gründe überzeugen mich, wenn man etwa Berichte über Hühnerhaltung sieht. Wenn jemand deswegen kein Fleisch ist, akzeptiere ich das. Aber nicht, wenn er sagt: Das erzeugt Krebs - das ist einfach falsch.
Übrigens kriegen Veganer und Vegetarier häufiger Krebs - das hat aber nichts mit ihrer Lebensführung zu tun, sondern liegt auch an der Statistik: Sie leben länger, weil sie in der Regel besser gebildet sind und ein höheres Einkommen haben. Das Älterwerden ist nämlich generell das höchste Krebsrisiko.
Was ist mit Risiken, die sich gar nicht kalkulieren lassen, Stichwort Terroranschläge. Auch nach Paris ist die Wahrscheinlichkeit, betroffen zu sein, sehr gering. Trotzdem haben die Menschen jetzt mehr Angst. Ist das nicht legitim?
Das ist ein weiteres Beispiel, wie die Angst vor etwas Konsequenzen hat, die dramatischer sind als das Risiko selbst. Das hat mein Kollege Gerd Gigerenzen mal für 9/11 ausgerechnet. Bei den Terroranschlägen sind zweieinhalbtausend Menschen umgebracht worden. Durch die Angst vor dem Terror sind aber 7.000 bis 8.000 Menschen gestorben. Warum? Die Amerikaner fliegen weniger und fahren stattdessen Auto. Seit den Anschlägen gibt es pro Monat ungefähr 200 zusätzliche tödliche Verkehrsunfälle.
Nochmal zu Paris: Ist es nicht trotzdem legitim, sich mehr zu fürchten?
Ich habe am Freitagabend noch beschlossen, im Dezember nach Paris zu fahren. Denn so sicher wie jetzt wird es nie wieder sein. So ist es immer direkt nach Anschlägen. Generell ist die Angst vor Terror völlig unbegründet. Fast zeitgleich mit Paris sind am Wochenende genauso viele Menschen auf den Autobahnen gestorben.
Für die Betroffenen ist es natürlich eine Tragödie maximalen Ausmaßes. Und natürlich sollte man das Maximale tun, um solche Tragödien zu verhindern, aber man soll die Maßstäbe nicht verlieren. Ich werde mein Verhalten auf keinen Fall ändern.
Wissen Sie wirklich alles besser, wie oft behauptet wird?
Dieses Prädikat habe ich mal von einem Ihrer Kollegen von der "Zeit" angehängt bekommen. Ich glaube, es ist die falscheste Beschreibung überhaupt. Ich habe nie das Gefühl, dass ich die Wahrheit weiß. Mein größtes Vorbild in der Wissenschaft ist ein Wiener: Sir Karl Popper. Er hat immer gesagt: "Du kennst die Wahrheit nie. Wer das behauptet, ist ein Scharlatan." Man muss immer davon ausgehen, dass man doch nicht Recht hat - das ist meine Lebenseinstellung.
Sie behaupten, wir fürchten uns vor dem Falschen. Was wäre das Richtige?
Das Richtige wäre, sich vor Alkohol zu fürchten, vor Nikotin, vor dem Straßenverkehr, vor Leitern im Haushalt - jedes Jahr fallen etwa in Deutschland 4.000 Leute von der Leiter und brechen sich das Genick, und vor Wohnungsbränden. Wissen Sie, was die billigste Art und Weise wäre, in Deutschland wie in Österreich ein Menschenleben zu retten: Zwangsrauchmelder in allen Wohnräumen. Bei diesen großen Gefahren sollten die Medien anfangen, nicht bei den kleinen.
Interview: Eva Obermüller, science.ORF.at