Historische Forschung war lange Zeit Handarbeit in Archiven, mühsam und zeitaufwendig. Mittlerweile hielten auch in dieser Disziplin automatisierte Methoden Einzug. "Culturomics" nennt der Harvard-Forscher Jean-Baptiste Michel diesen Ansatz: So wie Biologen in genetischen Daten nach Querverbindungen und Mustern suchen, kann man das auch bei historischen Dokumenten tun, sofern diese elektronisch verfügbar sind.
Mit Hilfe von Textanalysen entdeckten Wissenschaftler bereits eine Reihe von Trends - etwa dass der literarische Stil in den letzten 200 Jahren egoistischer geworden ist. Nach Texten nehmen sich historisch versierte Computerwissenschaftler neuerdings auch Bildarchive im Internet vor.
Fotos aus Highschool-Jahrbüchern
Alexei Efros und Shiry Ginosar von der University of California, Berkley, werteten 37.000 Porträtfotos aus Jahrbüchern amerikanischer Highschools aus. Sie stammen aus den Jahren 1905 bis 2013 und verraten einiges über den Wandel kultureller Normen im vergangenen Jahrhundert.
Studien
"A Century of Portraits: A Visual Historical Record of American High School Yearbooks", arXive-Preprint, 2015
"Why We Say 'Cheese': Producing the Smile in Snapshot Photography", Critical Studies in Media Communication, 2005

Shiry Ginosar et al.
Ginosar, Efros und ihr Team fertigten aus den Fotos Durchschnittsgesichter der jeweiligen Jahre und Dekaden an, um die Veränderung des Gesichtsausdrucks sichtbar zu machen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts blickten die amerikanischen Schüler und Schülerinnen noch mit fast versteinerter Miene in die Kamera. Im Lauf der Zeit wich der ernste Ausdruck einem sanften Lächeln und steigerte sich schließlich zum Fotogrinsen, wie wir es heute kennen.
Die US-Forscher vermaßen auch die Lippenkurvatur auf den Porträts und stellten mit mathematischer Präzision fest: Die Lächelfunktion stieg in allen Jahrzehnten an, nur in den 50er und 60er Jahren gaben die Mundwinkel ein wenig nach. Um danach wieder nach oben zu wandern.
Fazit der Forscher: "Dass wir in die Kamera lächeln, ist heute völlig normal. Doch das war keineswegs immer so." Über die Ursachen, so Ginosar im Gespräch mit science.ORF.at, könne ihr Team von Computerwissenschaftlern nichts sagen.
"Cheese": Kodak und die Folgen
Eine mögliche Antwort bietet die Medienwissenschaftlerin Christina Kotchemidova an. Sie versuchte in einem 2005 erschienenen Essay zu rekonstruieren, woher das heute allgegenwärtige Lächeln stammt. Kotchemidova zufolge orientierten sich die Porträtierten in der Frühphase der Fotografie noch an der Malerei: Sie wählten einen Gesichtsausdruck, der über längere Zeit ohne Anstrengung beibehalten werden konnte. Das änderte sich erst, als die Fotografie zum Massenprodukt wurde.
Marktführer war zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Firma Kodak, die ihre neue und billige Brownie-Kamera mit dem Slogan "You press the button, we do the rest" bewarb. Und das, schreibt Kotchemidova, tat Kodak mit einer Doppelstrategie: Sie stellte das Knipsen mit der Kamera nicht nur als einfache Tätigkeit dar, sondern auch als eine, die allen Beteiligten Spaß macht.
Als Lächeln noch unschicklich war
In der Folge sickerten die freudigen Gesichter von den Plakaten ins echte Leben ein und wurden sukzessive zur sozialen Norm. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs waren die Ursprünge des "Cheese" längst in Vergessenheit geraten. Amerikanische GIs, die sich bei der Abfahrt in den Krieg fotografieren ließen, lächelten bereits mit Selbstverständlichkeit in die Kamera.
Natürlich hatte sich im Lauf der Zeit auch das Schönheitsideal an die neuen Gepflogenheiten angepasst. Im 19. Jahrhundert, als die Fotografie noch in der Tradition der Porträtmalerei stand, musste ein schönes Gesicht einen geschlossenen Mund haben. Die Zähne zu blecken galt Kotchemidova zufolge als ungehobelt: Das Grinsen war damals nur Kindern und Betrunkenen vorbehalten.
Robert Czepel, science.ORF.at
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