Standort: science.ORF.at / Meldung: "Der psychisch Kranke als Daseinspartner"

Porträtfoto von Ludwig Binswanger

Der psychisch Kranke als Daseinspartner

Der Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger hat seine Fachdisziplin revolutioniert. Er lehnte es ab, psychisch Kranke nach pathologischen Schemata einzuteilen und zu behandeln. Stattdessen lebte Binswanger in einer therapeutischen Gemeinschaft mit seinen Patienten.

Ludwig Binswanger 05.02.2016

Dieses von Empathie geprägte Modell ist auch heute noch beispielhaft – 50 Jahre nach Binswangers Tod am 5. Februar 1966.

Auseinandersetzung mit Sigmund Freud

Das konkrete psychische Leiden der Menschen stand im Zentrum der theoretischen und praktischen Arbeit von Ludwig Binswanger. Sein Hauptanliegen war es, die "Einmaligkeit, Einheit und Einzigartigkeit" des seelisch Kranken zu betonen. Binswanger ging von der gesamten Existenz - vom Dasein des Menschen aus. In der von ihm konzipierten Daseinsanalyse suchte er eine vertrauensvolle Gesprächsbasis aufzubauen, die einen Zugang zu den seelisch Kranken ermöglichen sollte.

Entscheidend für Binswangers Konzeption der Daseinsanalyse war die Begegnung mit der Psychoanalyse von Sigmund Freud. 1907 kam es zu einer ersten persönlichen Begegnung mit Freud, die zu einer lebenslangen Freundschaft führte, die von einem regen Briefwechsel begleitet wurde "Ich kann ruhig sagen, dass meine ganze wissenschaftliche Entwicklung sich am Leitfaden philosophischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse abgespielt hat", notierte Binswanger.

Biografie

Geboren wurde Ludwig Binswanger am 13. April 1881 in Kreuzlingen am Bodensee. Er stammte aus einer Familie von Psychiatern, die bereits seit zwei Generationen die private psychiatrische Heilanstalt - das Sanatorium Bellevue - führten. Binswanger selbst studierte Medizin in Lausanne, Heidelberg und Zürich und erhielt seine erste Stelle an der Psychiatrischen Zürcher Universitätsklinik "Burghölzli", die der renommierte Psychiater Eugen Bleuler leitete. 1907 promovierte er bei Bleulers Oberarzt Carl Gustav Jung. Durch ihn lernte er die Psychoanalyse Sigmund Freuds kennen, die sein späteres Konzept der Daseinsanalyse entscheidend beeinflusste. Danach arbeitete er an der Psychiatrischen Universitätsklinik Jena, die sein Onkel Otto Binswanger leitete, der Friedrich Nietzsche nach seinem psychischen Zusammenbruch 1889 in Turin behandelte. Als Binswangers Vater überraschend starb, übernahm er 1911 die Leitung des Sanatoriums Bellevue, die er 1956 seinem Sohn Wolfgang übergab. Danach setzte Binswanger seine wissenschaftliche Arbeit, die er als work in progress verstand, bis zu seinem Tod am 5. Februar 1966 weiter fort.

Ö1 Sendungshinweis

"Phänomenologie des Daseins. Zum 50. Todestag des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger": Dimensionen am 4.2., 19:05 Uhr.

Literaturhinweise:

Ludwig Binswanger: Ausgewählte Werke. Verlag Asanger

Band 1: Formen mißglückten Daseins (hrsg. von Max Herzog)
Inhalte u.a.• Über Ideenflucht • Drei Formen mißglückten Daseins
Band 2: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (hrsg. von Max Herzog und Hans-Jürg Braun)
Inhalte u.a. • Das Miteinander von Mir und Dir • Das Zu-sich-selbst-sein • Die Überwindung des Widerspruchs von Liebe und Sorge in der Daseinserkenntnis
Band 3: Vorträge und Aufsätze (hrsg. von Max Herzog)
Inhalte u.a. Vorträge und Aufsätze • Mein Weg zu Freud • Traum und Existenz • Geschehnis und Erlebnis • Über Sprache und Denken
Band 4: Der Mensch in der Psychiatrie (hrsg. von Alice Holzhey-Kunz)
Inhalte u.a. • Der Fall Ellen West • Der Fall Suzanne Urban • Melancholie und Manie • Wahn.

Weitere Bücher

Chantal Marazia - Davide Stimilli (Herausgeber): Ludwig Binswanger - Aby Warburg. Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte, Verlag Diaphanes

Ludwig Binswanger: Taum und Existenz. Einleitung von Michel Foucault, Verlag Gachnang und Springer

Albrecht Hirschmüller (Herausgeber): Ellen West - Eine Patientin Ludwig Binswangers zwischen Kreativität und destruktivem Leiden. Neue Forschungsergebnisse, Asanger Verlag

Alice Holzhey- Kunz: Daseinsanalyse. Der existenzphilosophische Blick auf seelisches Leiden und seine Therapie. Facultas.wuv Universitätsverlag

Thiemo Breyer/Thomas Fuchs/Alice Holzhey Kunz (Herausgeber): Ludwig Binswanger und Erwin Straus. Beiträge zur psychiatrischen Phänomenologie, Karl Alber Verlag

Links

Philosophische Fundamente: Husserl und Heidegger

Trotz der Wertschätzung der Psychoanalyse entfernte sich Binswanger im Verlauf seiner wissenschaftlichen Tätigkeit immer mehr von Freud; er wandte sich der Philosophie zu - vorerst der Phänomenologie von Edmund Husserls. Von Husserl übernahm Binswanger die Forderung "Zu den Sachen selbst!", die sich auf die Phänomene der menschlichen Lebenswelt bezog. Übertragen auf die Psychiatrie bedeutete dies die Erforschung der jeweiligen Motive des seelisch Kranken, die in das Umfeld von dessen Persönlichkeit eingebettet wurden.

Eine besondere Faszination ging in den frühen 20er Jahren vom Denken Martin Heideggers aus; speziell sein 1927 publizierte Hauptwerk "Sein und Zeit" hinterließ einen tiefen Eindruck bei Binswanger. In diesem "Jahrhundertbuch" nahm Heidegger eine Analyse derjenigen Gegebenheiten vor, die das konkrete, menschliche Leben bestimmen. Heidegger ging vom menschlichen Dasein aus, das als "In-der-Welt-Sein" von der Leiblichkeit, von Schuldgefühlen, Existenzangst und vom Wissen des Todes bestimmt wird.

Daseinsanalyse und Weltentwurf

Binswanger übernahm Heideggers Konzeption des Daseins und entfaltete sie in seiner langjährigen Forschungsarbeit, die er als "phänomenologische Anthropologie" bezeichnete. Erst in dem 1942 publizierten, umfangreichen Hauptwerk "Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins" sprach Binswanger von der Daseinsanalyse als einer wissenschaftlichen Forschung, die auf die "Wirklichkeit des Lebens" gerichtet ist.

Von Heidegger übernahm Binswanger den Begriff des "Weltentwurfs". Als "Weltentwurf" verstand er dasjenige Lebenskonzept eines Menschen, in dem sich sein gesamtes Denken und Handeln bewegt. Diesen "Weltentwurf", der auch vom psychisch Kranken vorgenommen wird, sollte der Daseinsanalytiker möglichst genau beobachten und kommentieren, ohne ihn jedoch als Defizit zu bewerten.

"Bellevue" als therapeutische Gemeinschaft

Neben seiner intensiven wissenschaftlichen Tätigkeit engagierte sich Binswanger leidenschaftlich in seiner Privatklinik "Bellevue". Sie war speziell in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Institution von europäischer Bedeutung. Das Sanatorium wurde häufig von psychisch labilen Künstlern wie dem expressionistischen Maler Ernst Ludwig Kirchner, dem Schriftsteller Leonhard Frank oder dem Kunsthistoriker Aby Warburg aufgesucht. Im Vordergrund der ärztlichen Behandlung stand das Bemühen um die Eingliederung in eine kleine Gemeinschaft.

Fallbeispiel: "Absatz-Phobie"

Binswangers psychiatrische Arbeit kann man im Falle eines 21-jährigen Mädchens illustrieren, das an der sogenannten "Absatz-Phobie" litt. Diese Phobie zeigte sich erstmals im Alter von fünf Jahren, als beim Losschnallen des Schlittschuhs der Absatz im Schlittschuh stecken blieb, was eine unerklärliche Angst und einen Ohnmachtsanfall zur Folge hatte. Seitdem wurde das Mädchen von einer unbezwingbaren Angst befallen, wenn es bemerkt, dass ein Absatz nicht fest am Schuh haftet:

Die Phobien - diese durch nichts zu erklärenden Angstanfälle- verweisen besonders deutlich auf die Ambivalenz seelischen Leidens; der seelisch Kranke entwickelt eine Hellhörigkeit für Phänomene, die dem sogenannten normalen Menschen kaum berühren. Der an sich unbedeutende Bruch des Absatzes wird zum traumatischen Erlebnis, das nicht mehr durch Kommunikation vermittelbar ist.

Das Abbrechen des Absatzes kann als Hinweis auf die Brüchigkeit der menschlichen Existenz verstanden werden, auf den jederzeit möglichen Abbruch menschlicher Beziehungen. Die wichtigste Aufgabe des Therapeuten besteht nun darin, diese Verweise auf die Unheimlichkeit des eigenen Seins als spezifische Erlebnisweise ernst zu nehmen und sie nicht etwa als Symptom einer Phobie zu klassifizieren.

Traum und Existenz

Eine wichtige Rolle für das Verständnis des psychisch Kranken spielen laut Binswanger die Träume, die als Manifestationen des Unbewussten eine besondere Erfahrungsform darstellen. Sie sind keineswegs etwas Beängstigendes, sondern eine wertvolle Erfahrung. "Das Thema, das sich das Dasein im Schlafe gibt", schreibt Binswanger in seinem Aufsatz "Traum und Existenz", "ist etwas Wichtiges und Ausschlaggebendes".

Und weiter: "Versenken wir uns in die Träume, so glauben wir, einen Augenblick gleichsam den Puls des Daseins zu fühlen, seiner Systole und Diastole, seiner Expansion und Depression, seinem Ansteigen und Zusammensinken zuzusehen."

Michel Foucaults Deutung

Der französische Philosoph Michel Foucault würdigte in seiner 1954 publizierten umfangreichen Einführung in die französische Übersetzung dieses Aufsatzes Binswangers Trauminterpretation, die er der Traumdeutung von Sigmund Freud gegenüberstellte. Während Freud den Traum psychologisch verkürze - so Foucault - betone Binswanger, dass der Traum eine Dimension der Offenheit ermögliche, "die dem menschlichen Subjekt seine radikale Freiheit zurückerstattet".

Fazit: "Der Daseinsanalytiker wird immer mit dem Kranken auf der Ebene der Gemeinsamkeit des Daseins stehen. Er wird den Kranken nicht zu einem Objekt machen, sondern wird in ihm den Daseinspartner sehen. Der Arzt muss das Vertrauen des Kranken erwidern können, ihn auch seinerseits das Geschenk des menschlichen Vertrauens entgegenbringen."

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft

Mehr zu dem Thema: