science.ORF.at: Wie hat sich Ihr Leben durch den Nobelpreis verändert?
Thomas Südhof: Ich bin viel mehr mit verschiedenen Dingen beschäftigt. Manche, die mir wichtig sind, andere, die mir wieder nicht so wichtig sind.
Was ist Ihnen wichtig?
Ich beschäftige mich seither viel mit der Frage, wie sich Wissenschaft entwickelt. Ich bin einfach davon überzeugt, dass Wissenschaft wertfrei und darauf ausgerichtet sein muss, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Leider ist sie aber oft von politischen Zielen beeinflusst oder fungiert als Instrument für wirtschaftliche Entwicklung oder medizinische Anwendung. Das sind alles Aspekte, die für die Gesellschaft eine große Rolle spielen, aber das kann die Wissenschaft nicht leisten.

Howard Hughes Medical Institute
Zur Person
Der deutsche Biochemiker Thomas Südhof unterrichtet seit 2008 als Professor für Molekulare und Zelluläre Physiologie an der Stanford University in Kalifornien. 2013 erhielt er den Medizin Nobelpreis für die Entschlüsselung des molekularen Transportsystems in unserem Gehirn.
Zur Forschung
Thomas Südhof widmet sich in seiner Forschung der Frage, wie Nervenzellen miteinander kommunizieren und weshalb nur bestimmte Nervenzellen miteinander in Kontakt treten und andere wiederum nicht: "Es gibt eine starke Selektion. Und ich würde - abgesehen von der Frage, wie das im gesunden Gehirn funktioniert - gerne wissen, was mit diesen Kommunikationspfaden bei psychologischen Krankheitsprozessen wie Autismus oder Schizophrenie passiert."
Zur Veranstaltung
Thomas Südhof hielt am 16.3.2016 am Institute for Science and Technology Austria einen Vortrag zum Thema "Towards a molecular logic of neural circuits”.
Sendungshinweis
Diesem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 17.3. um 13:55 Uhr.
Sie erforschen das Gehirn - ein Thema, das auch viele "normale Menschen" interessiert. Für diese gibt es jede Menge populärwissenschaftliche Literatur. Ist das Segen oder Fluch?
Im Prinzip sehe ich das sehr positiv. Es besteht jedoch die Gefahr, dass man in einer Diskussion Dinge behauptet, die einfach nicht wahr sind bzw. dazu verführt wird – vielleicht aus Eitelkeit oder aus dem Wunsch heraus mehr Forschungsgelder zu bekommen – zu suggerieren, dass wir bald alles verstehen würden oder dass wir kurz davor stehen, Krankheiten wie Autismus oder Schizophrenie heilen zu können – das sind z.B. Bereiche, mit denen ich mich stark beschäftige.
Vermutlich wissen wir aber gerade einmal fünf Prozent von dem, was im Gehirn vor sich geht – vielleicht ist es auch nur ein Prozent. Hier wird manchmal ein falsches Bild in der Öffentlichkeit erzeugt.
Was ist das Wichtigste von diesen fünf oder diesen einem Prozent?
Im Vergleich zu dem, was wir wussten, als ich vor 30 Jahren meine Karriere begann, ist der Fortschritt natürlich immens. Dennoch ist es eine riesen Herausforderung, das Gehirn zu verstehen. Und selbst mit enormen Fortschritten ist das nur ein winziger Teil von dem, was man wirklich verstehen müsste.
Wir wissen beispielsweise, wie Synapsen prinzipiell funktionieren und Informationen weiterleiten – das wusste man früher nicht. Wir verstehen beispielsweise nun ein paar Mechanismen, wie Synapsen lernen oder vergessen können oder welche Zellen miteinander "sprechen" – warum sie das tun – also warum sie nicht mit allen Zellen Informationen austauschen, das wissen wir allerdings nicht.
Auch kennt man seit wenigen Jahren jene Gene, die für bestimmte neuronale Krankheiten verantwortlich sind – das bedeutet aber weder, dass wir die Gene verstehen noch die Krankheiten, die sie verursachen.
Wird man das Rätsel Gehirn je ganz lüften können?
In der Wissenschaft hat man natürlich immer Hoffnung – aber diese Frage kann ich nicht beantworten.
Ich denke, dass die Prozesse des Gedächtnisses – wie man lernt oder sich erinnert – durchaus lösbar sind. Wir Menschen, genauso wie die Tiere, haben die erstaunliche Fähigkeit, eine Unmenge von spezifischen Informationen sehr lange zu speichern, um sie dann in einem bestimmten Moment wieder abzurufen. Noch wissen wir nicht, wo alles im Gehirn abgespeichert wird oder wie das "Sich-Erinnern", also das Wiederzurückholen der Information, genau funktioniert. Hier sind wir sicher auch am Anfang, aber es gibt wesentliche Fortschritte.
Was sind die größten Umweltverschmutzungen fürs Gehirn, wodurch die Denkleistung abnimmt – Geruch, Lärm ...?
Aus meiner eigenen Erfahrung – hier spreche ich aber nicht als Wissenschaftler – kann sich das Gehirn nicht optimal entwickeln, wenn wir uns keine Freiräume schaffen. Die Gefahr besteht darin, dass wir durch die zunehmende elektronische Vernetzung etc. stärker abgelenkt werden von dem, was wir tun und uns weniger konzentrieren können, weniger reflektieren oder aktiv kommunizieren.
Auch als Wissenschaftler kenne ich das: Wenn man etwas verstehen und Fortschritte machen will, dann ist die Herausforderung heute einerseits, aus einem riesen Angebot an Informationen auszuwählen und sich darüber hinaus nicht ständig ablenken zu lassen durch Handys und andere Faktoren.
Ich habe gelernt, dass es wichtig ist, nicht immer via E-Mail etc. erreichbar zu sein, sondern sich Freiräume für die persönliche Kommunikation mit Menschen zu schaffen.
Macht es für das Gehirn einen Unterschied, ob man sich von Angesicht zu Angesicht mit jemandem unterhält oder ob man SMS schreibt?
Das ist noch nicht untersucht, aber eine gute Frage.
An sich wird es vermutlichen keinen Unterschied machen. Ich glaube aber schon, dass es sich sehr negativ auf die Entwicklung des Gehirns auswirkt, wenn man nur noch passiv irgendwelche Informationen empfängt und nicht mehr aktiv an realen Unterhaltungen teilnimmt. Wir sind soziale Wesen, ich denke, das zeichnet uns aus.
Sie sagten, wir wissen nur sehr wenig über das Gehirn. Reicht das, was wir wissen, aus, um es mithilfe von Computern zu simulieren, wie es gerade von mehreren Projekten versucht wird?
Nein, auf keinen Fall. Die Behauptung, wir würden bereits ausreichend wissen, um das Gehirn modellieren zu können, finde ich gerade zu abenteuerlich.
Dem wird häufig entgegengesetzt, dass man – ähnlich wie in der Astrophysik – den Rest berechnen kann. Das Problem ist nur, dass es in der Physik klare Gesetze gibt, die es in der Biologie nicht gibt. Oder zumindest kennen wir sie noch nicht. Es fehlt fundamentales Wissen, um etwas modellieren zu können, was auch nur entfernt dem entspricht, was ein Gehirn kann.
Interview: Ruth Hutsteiner, science.ORF.at
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